■ Die Bilanz der Verkehrspolitik ist negativ / Berlin kann dem Stau nicht entrinnen - dennoch sollen mit Milliardenaufwand neue Straßen gebaut werden
: Der Zwang zum Auto

Der Zwang zum Auto

Ob man sein Auto stehenläßt, ist nicht nur Sache des guten Willens. Wer vorher weiß, daß er im Stau stecken und – schließlich am Ziel angekommen – keinen Parkplatz finden wird, überwindet sich eher, die vielleicht mehreren hundert Meter zur nächsten Bus- oder Straßenbahn-Haltestelle oder zum nächsten U- und S-Bahnhof zu gehen. So betrachtet, ist die Verkehrspolitik der Großen Koalition in Berlin ein Erfolg: Denn seit Fall der Mauer ist die Blechkarawane auf den Hauptstadt-Hauptstraßen ins Stocken geraten, und auch Parkplätze sind rar. Dieser zweifelhafte Fortschritt war so allerdings nicht gewollt: „Den Stau auflösen“ war die Parole, mit der die CDU vor drei Jahren auf Wählerfang gegangen war.

Wer glaubt, daß mit dem Erwerb des Titels Hauptstadt auch der Ehrgeiz einhergehen würde, politisch innovativ zu sein, irrt. Aus der Regierung ist in drei Jahren ein einziger Vorschlag gekommen, der wirklich neu war. Unterstützt von seinem Umweltsenator Volker Hassemer wollte Staatssekretär Lutz Wicke (beide CDU) ab kommendem Monat das Fahren für Autos ohne Katalysator in der Innenstadt verbieten, in der 1,1 Millionen Menschen wohnen. Für eine gewisse Zeit hätte es gegen Gebühr eine Ausnahmegenehmigung für Dreckschleudern gegeben. Doch die Einführung des „Kat-Konzepts“ ist auf Druck von CDU und SPD sowie von Verkehrssenator Herwig Haase (CDU) um vier Jahre verschoben worden. Ein Treppenwitz: 1998 wird – da es fast nur noch Autos mit Abgasfilter geben wird – das Fahrverbot kaum jemanden treffen, somit der Verkehr nicht verringert und die Luft dann nicht mehr besser werden.

Doch an Erfindungsreichtum mangelt es nicht. Nur kommen Verwaltungsbeamten, Senatoren und den Abgeordneten der Regierungsfraktion unkonventionelle Einfälle auf eine unheimliche Weise – nämlich nur, wenn es gilt, dem Autoverkehr freie Bahn zu verschaffen. So entblödete sich Verkehrssenator Haase nicht, im Westteil der Stadt bei mehr als zwei Dutzend Straßen Tempo-30- Schilder gegen Tempo-50-Zeichen auswechseln zu lassen. Ein „Roll- Back“ wie es sich bisher nicht einmal die rückschrittlichsten Regierungspolitiker in der hinterletzten Provinzstadt getraut hätten. Auch hat der 48jährige Diplomvolkswirt es geschafft, die von der Koalition beschlossene Verlängerung der Busspuren auf 270 Kilometer zu verhindern. Seit Amtsantritt schaffte die Koalition pro Tag (inclusive Samstags, Sonn- und Feiertags) zwei Meter: In drei Jahren wuchs das Netz von 50 auf stolze 52 Kilometer. Nicht einmal das beschlossene Eintreiben von Parkgebühren rund um den Alex und den Zoologischen Garten gelingt.

Höhepunkt aller Dreistigkeit: Der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen stimmte für das Beschleunigungsgesetz des ehemaligen Skandal-Ministers Günther Krause (beide CDU) – entgegen einer eindeutigen Koalitionsabsprache. Ohne sein Händchen hätte das Gesetz den Bundesrat nicht passiert. Aber selbst bei Kleinigkeiten ist der Stadt-Chef knauserig. Mitte Dezember strich er ein lang diskutiertes Thema der Finanzverwaltung von der Tagesordnung des Senats. Finanzsenator Elmar Pieroth (CDU) schlägt vor, von 20.000 landeseigenen Parkplätzen auf 5.000 zu verzichten und weitere 9.000 zu vermieten. Jährliche Einsparung: 6,1 Millionen Mark. Effekt: Viele Beamten würden mit der BVG zur Arbeit fahren.

Nun regiert, auch wenn es in der Verkehrspolitik so aussehen mag, nicht nur die CDU. Aber was machen die Sozialdemokraten? Sie lassen sich, so scheint es, unzählig oft über den Tisch ziehen. Auf der politischen Bühne sind sie nur zu entdecken, wenn eine fortschrittliche Verkehrspolitik versprochen werden soll.

Eine dieser Verlautbarungen, die nicht nur gerne von den Spree- Sozialdemokraten wiederholt wird, besagt, daß im Zentrum der Innenstadt der heutige Anteil des Autoverkehrs von zwei Fünfteln auf künftig ein Fünftel gedrosselt werden soll. Im Gegenzug soll der Anteil von Bus und Bahn von heute 60 Prozent auf 80 Prozent erhöht werden. Tatsächlich werden auch durch die Teilung der Stadt bedingte Stillegungen von U- und S-Bahn-Verbindungen wieder nach und nach in Betrieb genommen. Doch auf der anderen Seite hat die Landesregierung die Zuschüsse für die defizitären Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) gleich um dreistellige Millionen-Beträge gekürzt. Das Versprechen, daß es im Bus- und Bahnverkehr zu keinen Verschlechterungen kommen dürfe, konnte nicht gehalten werden. Überraschend? Und müßte man bei den Straßenbauvorhaben raten, aus welchem Jahrzehnt die Pläne stammten, man würde wohl eher auf die 60er als auf die 90er Jahre tippen.

Als gehe es um die Zusammenstellung eines verkehrspolitischen Gruselkabinetts – die Koalition hat alles anzubieten: neue Autobahnen, Tangenten, Radialen, Straßenringe und selbst Tunnel. Alleine die geplante Autoröhre unter dem Tiergarten wird 600 Millionen Mark verschlucken. Diese Ausgabe, über die sich Berlin mit dem Bund immer noch munter streitet, obwohl die Baugrube schon Anfang kommenden Jahres ausgehoben werden soll, ist dabei völlig unverständlich. Schließlich bestreiten nicht einmal die PS-Fraktion in der CDU und der ADAC, daß Autofahrer nach Eröffnung Mitte 1999 in der vierspurigen Röhre steckenbleiben werden, weil der Verkehr nirgends abfließen kann. Dieses Wissen ist im übrigen ein wesentlicher Unterschied zur Betonpolitik der 60er Jahre: Städteplaner glaubten damals wenigstens, neue Pisten machen den Verkehr flüssiger.

Daß neuer Asphalt nicht mehr hilft, macht die Hauptstadtplaner 30 Jahre später aber auch nicht stutzig. Mit Milliarden von Mark sollen ein innerer Stadtring vervollständigt, der Autobahn-Halbring im Westteil der Stadt in den Osten verlängert werden – teilweise unterirdisch. Der im Erläuterungsbericht zum derzeit diskutierten Flächennutzungsplan prognostizierte Zuwachs des Verkehrs um ein Zehntel wäre damit nicht aufzufangen: Es sei eine „starke Mehrbelastung des Straßennetzes zu erwarten“, warnt das Heft der Stadtentwicklungsverwaltung. Verkehrsexperten sind sich sogar einig, daß ein Anstieg des Autoverkehrs um ein Fünftel realistischer sei. Dann aber würden die Autoabgase in vielen Straßen um das Drei- bis Vierfache zunehmen. Diese Verschmutzung sieht eine Studie des Daimler- Benz-Konzerns – kein Unternehmen, dem Autofeindlichkeit unterstellt wird – voraus. Grund: Fast überall in der Stadt wird nur noch Stop and go herrschen.

Den Senat ficht das nicht an. Autofahrer sollen in Berlin offenbar eine freie Piste bekommen, die gar nicht mehr zu schaffen ist. Dabei ist nicht einmal geklärt, ob in einer Stadt das private Autofahren überhaupt nötig ist. Daß dennoch auch in Zukunft nicht auf die Blechkiste verzichtet werden kann, dafür ist längst gesorgt. Als Senator Haase in diesem Jahr die Verkehrsplanung für die im Nordosten Berlins projektierten Großsiedlungen, in denen einmal bis zu 200.000 Einwohner leben sollen, vorstellte, versuchte er es als Erfolg zu verkaufen: Er persönlich habe die Beamten in seiner Verwaltung davon überzeugen können, den entstehenden Verkehr nicht zu 40 Prozent, sondern zur Hälfte mit Bus und Bahn zu bewältigen. Auf Nachfrage mußte er einräumen, die Regelung bedeutete nichts anderes, als daß die andere Hälfte Auto fahren muß. Planer haben 1993 für jeden zweiten der neuen Bewohner im Jahre 2010 keinen Platz in öffentlichen Verkehrsmitteln vorgesehen.