■ Großer Lauschangriff und Kanthers neuer Vorstoß
: 1994 wird 1984 Wirklichkeit

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. Die Wohnung ist unverletzlich.

Dies sind Grundrechts-Kernsätze aus dem Grundgesetz der Bundesrepublik. Die Grundrechte dürfen in keinem Fall in ihrem Wesensgehalt angetastet werden. Letztendlich jedoch ist die Änderung eines Grundrechts Sache der Interpretation, wie die faktische Abschaffung des Asylrechts zeigte. Jetzt liegt auch Artikel 13 des Grundgesetzes auf der Schlachtbank. Er gilt als Hindernis im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität. Es heißt, dieser Kampf könne nur durch den Großen Lauschangriff gewonnen werden.

Der Große Lauschangriff beinhaltet die Aufzeichnung von Gesprächen in einer Wohnung, in der die entsprechende Technik heimlich über einen bestimmten Zeitraum installiert wurde. Und weil die Befürworter des Lauschangriffs die Auffassung vertreten, die Semantik stimme nicht, wird er auch als technische Beweismittelsicherung bezeichnet. Tatsächlich ist diese Formulierung treffender. Denn der Große Lauschangriff schließt nicht nur das Mithören, sondern zwangsläufig auch die Observation ein. Wie anders sollen die Gesprächsteilnehmer identifiziert werden? Die Identifizierung ist technisch zwar auch anhand der Sprache möglich, aber im laufenden Ermittlungsverfahren oftmals zu zeitaufwendig. Deshalb kann es nur eine Frage der Zeit sein, bis neben der Wanze auch die Videoüberwachung einer Wohnung gesetzlich verankert wird, um die Polizei zu entlasten.

Heute stehen die Geheimdienste, BND und Verfassungsschutz in den Startlöchern, um im sogenannten Vorfeld Organisierter Kriminalität zu ermitteln. Ein Wunsch, der in Erfüllung gehen kann, sobald die Unverletzlichkeit der Wohnung aufgehoben wird. Geheimdienste und Polizei im Tête-à-tête. Bereits mit der Schaffung neuer Polizeigesetze wurde der Lauschangriff zur Gefahrenabwehr in vierzehn Bundesländern erlaubt. Damit wurden die Voraussetzungen zur engen Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten im Vorfeld der Kriminalität geschaffen, obwohl die Trennung beider Behörden zum Verfassungs-Grundkonsens der Nachkriegszeit zählte.

Während 1980 noch 766 richterlich genehmigte Telefonüberwachungen von der Polizei durchgeführt wurden, waren es 1992 schon 3.509. Und trotz der gesteigerten Überwachung stieg die Kriminalität weiter an. Dagegen kam es in den USA 1992 zu 746 Überwachungen, davon 532 Telefonüberwachungen. Diese Zahlen sprechen für sich. Denn es darf nicht vergessen werden, daß in der BRD neben der Polizei die Geheimdienste ebenfalls lauschen. Insbesondere der BND ist technisch dermaßen hochgerüstet, daß er internationalen, über Fernmeldesatelliten, Richtfunk oder Kurzwelle abgewickelten Fernmeldeverkehr durch sogenannte Wortbanken gezielt abhören kann.

Strenge Kontrollmechanismen engen die Lauschmöglichkeiten der Polizei in den USA ein. Der schriftliche Antrag der Polizei muß detaillierte Angaben enthalten, und die bisherigen Ermittlungen müssen mit Begründungen offengelegt werden, warum nur die technische Überwachungsmaßnahme weiterführt. Der Antrag wird dann von der obersten Dienstbehörde und dem Justizministerium geprüft und dem Gericht vorgelegt. Grundsätzlich darf die Maßnahme 30 Tage nicht überschreiten, und Polizisten müssen ständig mithören und bei privaten Gesprächen abschalten. Im Gegensatz zu den USA sind in Deutschland mehrmonatige Telefonüberwachungen möglich, die rund um die Uhr aufgezeichnet werden und schon zu 550 Stunden aufgezeichneten Telefongesprächen geführt haben.

Während die konservativeren Kräfte in dieser Republik die Auffassung vertreten, wer nichts zu verbergen hat, braucht auch keine Angst vor dem Abhören zu haben, möchten die liberaleren Befürworter des Lauschangriffs ihre Zustimmung an bestimmten Hürden festmachen und vergessen dabei: einmal das Grundrecht eingeschränkt, sind auch die Hürden bald abgeschafft. So soll der Lauschangriff nur bei schwersten Straftaten durch ein Richterkollegium angeordnet werden. Was sind aber schwerste Straftaten? Letztendlich können Einbrüche mit hohem Schaden ebenso darunter fallen wie Raubüberfälle oder Auftragsmorde.

Selbst bei Gefahr im Verzug soll der Richtervorbehalt gelten, und der Betroffene soll ausnahmslos unterrichtet werden, damit er das Lauschen richterlich überprüfen lassen kann. Aber der Richtervorbehalt beinhaltet nicht gleichzeitig eine richterliche Kontrolle der Maßnahmen. Zudem hat sich in der Praxis herausgestellt, daß die Polizei bei ortsübergreifenden Verfahren versucht, den polizeifreundlichen Richter auszusuchen, um den polizeilichen Eingriffsbefugnissen den rechtsstaatlichen Touch zu geben. Außerdem braucht die Staatsanwaltschaft seit Herbst 1992 dem Richter sogenannte Sonderakten nicht mehr vorzulegen, so daß sich der Richter vom Umfang der Ermittlungen kein Bild machen kann. Dies zeigt auch, daß im Gegensatz zu den USA der Lauschangriff in dieser Republik nicht letztes Mittel sein muß, sondern der polizeilichen Arbeitserleichterung dienen soll.

Diejenigen, die Bauchschmerzen bei der Befürwortung des Großen Lauschangriffs haben, denken sich immer wieder neue Kontrollmechanismen aus. Der Ministervorbehalt wurde dazu in die Diskussion gebracht. Danach würde sich ein Minister genau überlegen, ob er eine Genehmigung zum Lauschen erteilt, weil er die Konsequenz eines Rücktritts scheue. Die Vergangenheit zeigt aber, daß Minister nicht immer zimperlich im Umgang mit dem Recht sind. Gegen den Ministervorbehalt spricht die Abhängigkeit der Minister von ihren Parteien, so daß eine unabhängige Entscheidung nicht gewährleistet ist.

Strenge Beweisverwertungsverbote sollen die Möglichkeit der technischen Beweismittelverwertung weiter einschränken. Doch Daten, die die Polizei in Erfahrung bringt und ihr nutzen können, kann sie auch verwerten, ohne daß dies überprüfbar ist.

Mit der Diskussion um den Großen Lauschangriff wird die Organisierte Kriminalität zur Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung stilisiert. Doch nicht die Organisierte Kriminalität bedeutet eine derartige Gefahr, sondern ausschließlich korrupte Beamte und Politiker. Und welcher Polizeibeamte und Politiker möchte sich vorstellen, daß er selbst Opfer des Lauschangriffs wird, weil er selbst oder ein Kollege im Verdacht der Korruption stehen. Wer mag es sich vorstellen, daß die privaten Gespräche über den Chef oder den ungeliebten Kollegen bekanntwerden. Schon dieses kleine Beispiel verdeutlicht den Konflikt des heimlichen Belauschens mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Heimliche Tonbandaufnahmen während Vernehmungen sind unzulässig, und die Auswertung schriftlicher Unterlagen, die im Rahmen von Durchsuchungen sichergestellt wurden, obliegt nur der Staatsanwaltschaft. Dies zeigt, wie die informationelle Selbstbestimmung an anderer Stelle hinreichend berücksichtigt ist. Es kann in einem demokratischen Rechtsstaat nicht alles erlaubt sein, um in der Kriminalitätsaufklärung zum Erfolg zu kommen.

Um derartigen Gedanken einen Riegel vorzuschieben, spricht Bundesinnenminister Kanther vom Belauschen der Gangsterwohnung und beschreibt damit Menschen, die Rechte anderer verletzt haben und deshalb mit Rechtseingriffen rechnen müssen. Doch die Polizei ermittelt nicht gegen Menschen, die von vornherein verurteilt sind, die schon während der Ermittlungen schuldig sind, sondern gegen Tatverdächtige, und die können vor Gericht freigesprochen werden, weil die Beweise nicht ausreichen oder weil sie schlichtweg unschuldig sind. Jetzt hat Kanther, um die Bedenken der SPD auszuräumen, ein neues, taktisch geschickt lanciertes „Kompromißangebot“ unterbreitet. Durch einen Straftatenkatalog möchte er das Lauschen auf schwere Straftaten beschränken. Dem Zeugnisverweigerungsrecht möchte er voll Rechnung tragen, wie auch ein Verwertungsverbot gelten soll. Wie gesagt – nichts ist leichter zu umgehen als ein derartiges Verwertungsverbot. Und das Zeugnisverweigerungsrecht ist nicht einhaltbar. Denn selbst wenn gewonnene Erkenntnisse dieses Recht berühren, bieten sie eine Informationsgrundlage für künftige Ermittlungen. Kanther will, daß die Telefonüberwachung in das neue Verfahren einfließt. Doch welcher Ermittler wird sich mit der Telefonüberwachung plagen, wenn er mit der Wanze weit umfangreichere Informationen erhält?

Kriminalität sollte nach Möglichkeit im Vorfeld verhindert werden. Dies ist nur möglich, wenn Menschenwürde und Menschenrechte als verinnerlichte Werte gesellschaftlich breit unterstützt werden. Werte, die, ernst genommen, dazu führen, daß niemand wegschaut, der Gewalt und andere Kriminalität erlebt, sondern in adäquater Form aktiv wird. Damit ist nicht die Bürgerwehr gemeint, sondern die individuelle Verantwortung, die auch die Polizei in die Lage versetzt, ihrem Schutzauftrag ohne umfangreiche Eingriffsbefugnisse nachzukommen.

Ein Staat, der die Erlaubnis zum Lauschen in der Wohnung gibt, begibt sich auf die moralische Ebene der Kriminellen. Denn dann achtet der Staat die Menschenwürde und andere Grundrechte der Bürger ebensowenig wie der Straftäter. Jürgen Korell

Der Autor ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Kritischer Polizisten