Die Reise nach Foshan

Auf der Suche nach dem idyllischen Dorf in China oder die Finten eines deutschen Reiseführers  ■ Von Werner Meißner

Wie heißt es doch schon bei Goethe? „Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern sich gewiß, wo Elefanten und Tiger zu Hause sind“ („Die Wahlverwandtschaften/Aus Ottiliens Tagebuch“). Nun sind in China keine Elefanten und Tiger zu Hause, aber dennoch: Wer ungestraft unter Palmen auch in China wandeln möchte, der befrage zuvor einen richtigen Reiseführer.

„28 Kilometer südwestlich von Kanton liegt der Marktflecken Foshan. Jahrhundertelang war der kleine Ort ein bekannter Handelsort. Die schönen, mit Stuck verzierten Häuser im Dorfzentrum zeugen noch von verflossenen Zeiten ... Der wiedererrichtete Zu Miao-Tempel (Ahnentempel, 1078–85 während der Sung-Dynastie erbaut) ... ist die Hauptattraktion im Dorf. Wer das Dörflein erkunden möchte, gehe bis zum Ende der Straße und biege dort nach rechts ...“ So steht es in unserem deutschen Reiseführer, gedruckt 1991 (Uli Franz: „Hongkong, Macao, Canton – Richtig reisen“, DuMont).

Wer möchte nicht die „schönen, mit Stuck verzierten Häuser“ bewundern und einmal zur Erholung von der modernen Zivilisation für einen Nachmittag ins chinesische Mittelalter eintauchen. Also nichts wie hin, weg von Kanton, dieser von Menschen und Autos überquellenden, luftverpesteten Hauptstadt der Provinz Guangdong in Südchina. Natur, frische Luft, die alte Kultur, und das alles mitten im Dörflein Foshan. Welch innere Entspannung wird sich da einstellen. Zum Glück sagt uns auch der Reiseführer, wie man am besten zum Marktflecken Foshan kommt: „In Kanton ist die Busstation für Foshan in der Da Xin Lu (d.h. Da Xin-Straße). Busse fahren alle 20 Minuten. Die Abfahrtszeit ist auf den Fahrschein gestempelt.“

Das klingt wirklich einladend. Schließlich wollen wir „richtig reisen“, wie es auch der Reiseführer empfiehlt. Zu dritt – Rosi, Walter und ich – machen wir uns auf den Weg. „Das wird ja heute eine echte Landpartie“, freut sich Walter. Zu Fuß wandern wir von der Insel Shamian etwa eine Stunde zur Da Xin-Straße. Sie liegt im Zentrum von Kanton. In der Straßenkarte unseres Reiseführers ist die Da Xin-Straße nicht verzeichnet, aber das ist auch besser so, denn dann kommen nicht so viele Leute auf die Idee, den Bus nach Foshan zu suchen.

Erwartungsvoll, durchgeschwitzt, die Sonne steht im Zenit, halten wir nach dem Bus Ausschau, der uns nach Foshan bringen soll. Doch keine Haltestelle ist zu sehen, kein Busbahnhof, wo wir die gestempelten Tickets kaufen könnten ...

Da überkommt mich eine dunkle Ahnung: Ich erinnere mich plötzlich an die Reise nach Macau vor einem Jahr. Hatten wir da nicht nach zwei chinesischen Buchläden gesucht, die derselbe Reiseführer auf einer Karte Macaus angegeben hatte?

Buchläden sind wichtige Anlaufstätten in China; denn sie geben vielleicht Auskunft über die Änderung des politischen Kurses. Und in Macau findet man vielleicht ein paar alte Bücher. Also gibt man natürlich nicht so schnell auf, wenn man den Buchladen nicht gleich findet. Nach ein paar Stunden fest: Es hat hier noch nie einen Buchladen gegeben! Das jedenfalls versicherte uns damals der Besitzer des kleinen japanischen Restaurants, indem an sich der Buchladen hätte sein müssen. Woher aber hatte der Reiseführer nur das Wissen von den Buchläden (der zweite Buchladen war auch nicht aufzutreiben)?

Sollte es sich mit der Busstation etwa ebenso verhalten? Wir laufen noch ein paar hundert Meter die Da Xin-Straße entlang: nichts. Schließlich die Frage an den Einheimischen: „Gibt es hier einen Bus nach Foshan?“ Freundliche Ungläubigkeit ist die Antwort. „Nach Foshan? Aber nein, hier fährt kein Bus nach Foshan.“ – „Aber in unserem Reiseführer steht doch geschrieben, daß von hier der Bus nach Foshan abfährt, und zwar alle 20 Minuten.“

Ich zeige dem Mann meinen chinesischen Stadtplan. Er studiert ihn. Schließlich kreist er mit dem langen Nagel seines rechten kleinen Fingers wie mit einem gebogenen Messer auf einer Stelle. „Hier“, sagt er und stößt plötzlich zu, „hier fährt der Bus nach Foshan, in Huangsha.“ – „Das ist ja an der Brücke bei Shamian“, sage ich überrascht. „Ja“, nickt er. – „Da sind wir doch hergekommen“, sage ich. „Wir wohnen da nämlich gleich um die Ecke. Ist hier vielleicht früher einmal der Bus nach Foshan abgefahren?“ – „Nein“, sagt er, „früher auch nicht.“

Woher, so frage ich mich jetzt wieder wie damals im Falle Macaus, wußte der Reiseführer bloß so genau, daß der Bus in der Xin- Straße abfährt, und zwar alle 20 Minuten, und vor allem, daß die Abfahrtszeit sogar „auf den Fahrschein gestempelt“ ist?

Wir sind schließlich in Huangsha, von wo der Bus nach Foshan abfährt. Es ist inzwischen Nachmittag, die Hinweise des Reiseführers haben uns den ganzen Vormittag gekostet, denn nach dem Fußmarsch mußten wir erst einmal essen, und der dicke Reiseführer wiegt auch ziemlich schwer.

Der Verkehr nimmt wieder zu. Eine riesige Baustelle, oben die Stadtautobahn, darunter wird eine neue Straße gebaut. Der Lärm ist kaum auszuhalten, das Pflaster aufgerissen, die Luft schwer vom Staub und vom Ruß der Diesel. Busse kommen und fahren ununterbrochen ab, darunter auch mehrere nach Foshan. „Foshan, Foshan ...“, schreien Fahrer und Schaffner den Herumstehenden zu. Als wir sagen, wir wollen nach Foshan, werden wir fast gewaltsam in einen alten Bus gedrückt. Es herrscht Konkurrenz auf dem Verkehrsmarkt. Die Strecke nach Foshan wird privat betrieben. Nach wenigen Minuten ist der Bus rappelvoll, und die Fahrt geht los. Mühsam kämpft sich der Fahrer mit Hilfe der Hupe durch das Menschen- und Autogewühl.

Schließlich sind wir auf der Straße nach dem ersehnten Foshan. Doch Kanton nimmt und nimmt kein Ende. Der Verkehr ist mörderisch. Links und rechts der Straße stehen fast nur Fabriken und lange Ladenreihen mit Möbeln, alten Motoren und Getrieben, dann wieder freie Flächen, auf denen Fabriken gebaut werden sollen oder auch Wohnsiedlungen. Die Erde ist, soweit man sieht, entweder aufgerissen, planiert oder bebaut. Umwelt gibt es nicht mehr, nur noch eine Industriewelt im Werden, bei der auf der ersten Entwicklungsstufe bequemerweise die Umwelt gleich beseitigt wird. Was wir sehen, sind nur noch Ruinen der Natur, die im Staub ersticken. Aber noch ist unsere Hoffnung Foshan, der alte Marktflecken aus dem chinesischen Mittelalter ...

Nach wenigen Kilometern passiert etwas, das zu denjenigen Phänomenen in China gehört, welche sich wohl nie restlos erklären lassen werden: Der Bus hält plötzlich ohne jeden Anlaß, der Fahrer wendet auf der Straße und fährt mit derselben Geschwindigkeit wieder zurück. Keiner fragt, warum. Nach ein paar Kilometern biegt er nach links ab und fährt ein paar Kilometer „über den Acker“, wie man bei uns sagen würde. Die Achsen schlagen gegen das Chassis, und von hier setzt sich der Schlag auf die Wirbelsäule fort. Vielleicht eine Abkürzung, denke ich, aber das macht von der Straßenkarte her keinen Sinn. Der Bus samt Insassen übersteht die Abkürzung, nur die Hupe nicht. Sie will nicht mehr ausgehen. Bis Foshan wird dann durchgehupt.

Schließlich sind wir in Foshan. Der Bus hält, wir steigen aus und blicken uns verwundert um. Wo ist das Dorf? Wir sind mitten in einem Industriezentrum. Aber wir geben nicht auf und nehmen ein Taxi zum Tempel. Nach ein paar Minuten halten wir vor der Tempelanlage: Der Zumiao-Tempel ist das einzige Stück Mittelalter. Er liegt auf 3.000 Quadratmetern, berühmt sind seine Keramikfiguren, die chinesische Folklore und Dramen darstellen. Nach einer halben Stunde Wanderung durch das Mittelalter treten wir wieder auf die Straße. „Ich habe hier auch noch einen chinesischen Reiseführer. Ich seh' mal nach, was der über Foshan schreibt: Also Foshan, das ist eine Stadt, mit etwa 400.000 Einwohnern, eine große Industriestadt. Sehenswert in Foshan ist der alte restaurierte Tempel, Zumiao genannt, und das Porzellan, d.h. wir sind also wirklich in Foshan. Es gibt hier auch einen Flughafen mit Direktflug nach Peking, Nanjing, Guilin, Jinan, Wuhan u.a.“

„Ich denke, Foshan ist ein Marktflecken? So steht es doch in dem deutschen Reiseführer. Was ist denn eigentlich ein Marktflecken?“ fragt Walter.

„Ein Marktflecken ist ein kleiner Ort, der das Marktrecht hat.“

„So ist das also. Na gut. Und was sollen wir jetzt machen?“ sagt Walter. „Moment“, antworte ich und lese dann aus dem Reiseführer vor: „Wer nach dem Besuch des Zumiao-Tempels ... das Dörflein erkunden möchte, gehe zum Ende der Straße und biege nach rechts ...“

Wir wenden alle drei gleichzeitig den Kopf und blicken zum Ende der „Dorfstraße“: Sie ist vierspurig, endlos, nur Hochhäuser, Fabriken, Hotels, Läden, dichter Verkehr, Menschenmassen, Autolärm und Abgase. Wir entschließen uns zur Rückfahrt.

Nichts mit Mittelalter, keine frische Luft, kein Stuck. Da fällt mir ein, sind eigentlich chinesische Häuser jemals „mit Stuck verziert“ worden? Oder passierte das nur in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts und neuerdings wieder in Berlin? Noch wichtiger ist eine andere Frage: Woher wußte der Reiseführer bloß, daß Foshan ein Marktflecken ist, und weiterhin: Selbst wenn der Reiseführer zehn Jahre früher geschrieben worden sein sollte – die Auflage ist aber von 1991 –, so müßte sich ja die Bevölkerung von Foshan binnen zehn Jahren von ein paar hundert auf 400.000 Menschen vermehrt haben. Das ist doch beim besten Willen nicht zu schaffen. Ganz zu schweigen von den vielen Straßen und Häusern und der ganzen Infrastruktur. Das baut sich ja auch nicht so einfach in zehn Jahren auf. Vor allem nicht die Straße am Ende des Dörfleins.

Der Bahnhof des „Dorfes Foshan“, ein großer hell gekachelter Bau, wirkt von außen so riesig und auch so modern wie der Flughafen von Stuttgart. Gleich in der Nähe entsteht das gewaltige Chinesische Internationale Handelszentrum. Wir steigen in den Bus nach Kanton und denken: Jetzt geht es los, doch der Bus dreht erst ein paar Runden durch die Stadt, bis er voll ist. Die Schaffnerin ist vielleicht 17 Jahre alt. Sie streckt ihren Kopf mit den kurzen Haaren aus dem Fenster und schreit unaufhörlich: „Nach Kanton, nach Kanton/Huangsha, Kanton/Huangsha ...“ Der Bus fährt an die Menschen heran, einige steigen zu, andere winken ab, manche machen den Eindruck, als wollten sie eigentlich woandershin, steigen dann aber doch ein, so als hätte die Schaffnerin sie überzeugt, heute nacht doch in Kanton zu übernachten. Einige versucht sie sogar in den Bus zu ziehen, wie Männer, die ins Bordell gezogen werden. Nach etwa einer Stunde hat sie fünfzehn Passagiere eingesammelt. Dann startet der Bus endlich nach Kanton. Dieselbe Strecke wieder zurück. Auf der Kreuzung in Nanhai steht der Verkehr, nur die Hupen dröhnen, und die Diesel husten. Die Luft ist nicht zum Atmen, die Haare sind störrisch vom Staub. Zwischen den Lastwagen, Bussen und Autos drängen sich Fußgänger, Frauen mit Kindern und kämpfen mit lichtlosen Radfahrern um die letzten Zentimeter Platz. Hinter uns versinkt der „Marktflecken Foshan“. Wir sind kurz vor Kanton.