Traktate, Belehrungen etc.
: Im Bann dämonischer Mächte

■ Sturzevangelisches: Ein nur beinahe unglaublicher Fund im Berliner Dom

Alle, die eine selbst nur halbherzige religiöse Erziehung genossen haben, kennen die kleinen Belohnungen, die die Kirchen für konfessionsgerechtes Verhalten bereithalten. Die Katholen waren dabei natürlich immer im Vorteil, denn im Gegensatz zu den puristischen Evangelen haben sie das göttliche Bilderverbot von jeher lustvoll überschritten. Die katholischen Mitschüler hatten also ein schönes Brimborium beim Gottesdienst und brachten aus ihren Bibel- und Blockflötenkreisen die nettesten Heiligenbildchen und andere Devotionalien mit.

Der erwachsene Evangele weiß natürlich in der Zwischenzeit, um welchen Preis diese den Besitzer wechselten: wöchentliche Beichte, drastische Höllenbeschreibungen und über allem der ewig zürnende Allmächtige. Moralische Deformation durch barocken Kitsch also. Ha, sowas gibt's bei Evangelens nicht! Die verbiegen sich nämlich – nach der Devise „Das machen wir alles selber“ – ganz von allein durch die Macht des eigenen schlechten Gewissens. Kein extra Höllenschlund, keine Verwünschungen also, keine Belehrungen und keine Traktate. Überall nur Eigenverantwortlichkeit und ein trauriger Gott.

Denkt sich der Evangele so und lehnt sich zufrieden zurück. Aber wo es Konfessionen gibt, da gibt es auch Sektierer. Und die arbeiten eben am liebsten mit Höllenschlund, Verwünschungen, Belehrungen und Traktaten. Wer das nicht glaubt, geht am besten einmal in den – ziemlich katholisch restaurierten – evangelischen Berliner Dom. Dort liegen auf einem Tisch im Eingangsbereich, hübsch drapiert und kostenlos, die kleinen Broschüren einer „Evangelischen Volks- und Schriftenmission Lemgo-Lieme“, die sich als „Stiftung innerhalb der lippischen Landeskirche“ bezeichnet. Um es gleich vorweg zu nehmen: Das Lippische Landeskirchenamt in Detmold reagiert auf Anfragen resigniert-genervt. Man kennt den Verein, will – um Gottes Willen – nichts mit ihm zu tun haben, konnte sich bisher aber nicht dazu entschließen, den Stiftungszusatz in dessen Namen gerichtlich verbieten zu lassen. Sowas machen Evangelen nicht. Und außerdem ist „Evangelisch“ ja kein geschützter Titel. Genau wie „Psychotherapeut“.

Auffällig ist die Fülle gewohnt erbaulicher Literatur wie „Himmelstrost im Erdenleid (für Trauerfälle)“, „Der Segen des Leides“ und „Die Last der Einsamkeit“ – worüber man sich natürlich nur bedingt lustig machen möchte. Doch einige Heftchen widmen sich durchaus ernsthaften Betrachtungen: „Stammt der Mensch vom Affen ab?“, „Das Ziel Gottes mit der Menschheit“ und – das ist nun eine wirklich gute Frage – „Wie kann ein Witwer zum Segen werden?“. Stärkste Anziehungskraft übt jedoch ein orange-schwarzes Exemplar mit dem Titel „Im Bann dämonischer Mächte“ aus.

Dieses Bändchen, erfahren wir im „Geleit“ von Autor Pastor Heinrich Müller, ist 1962 „aus der Not der Zeit entstanden“. „Die starke Nachfrage und die Notwendigkeit dieser Schrift“ haben 1979 zu einer zweiten Auflage geführt – 450.000 Exemplare sollen bisher gedruckt worden sein. Auch dem säkularisierten Zeitgenossen leuchtet unmittelbar ein, darin Kapitel zum „Kartenlegen“, „Spiritismus“, „Pendeln“ und zur „Astrologie“ zu finden. Was aber ist bedrohlich an der „Sympathie“? „Sympathie“, lernen wir, „heißt: auf irgendeinen Gegenstand einen unerklärbaren Enfluß ausüben. Man kann auch sagen: geheimnisvoll wirken.“ Und: „Freudelos und friedeleer ist der Mensch, der sich der Sympathie hingegeben hat.“ Wie zum Beispiel die Bewohner eines Dorfes, die der Pastor einmal zum Zwecke der Evangelisation besuchte, und die ihn an ganzen drei Abenden seinen Vortrag nur mühsam zu Ende bringen ließen. Mehr noch, „die Feindschaft war so groß, daß man beschloß, [ihn] zu verprügeln.“ Für Pastor Müller ist das nur eine von vielen „erschütternden Folgen der Sympathie“. Wir würden in diesem Fall zugegebenermaßen umstandslos vom Gegenteil sprechen.

Kommt das womöglich daher, daß auch wir der ärgsten, gottesfrevlerischsten aller dämonischen Mächte erlegen sind: dem Aberglauben? Pastor Müller unterteilt die Folgen des Aberglaubens in drei Abteilungen. Bedrohlich sind die Folgen auf organischem Gebiet : „Plötzlich auftretende Epilepsie, erbliche Belastungen, Hysterie, Lähmungserscheinungen oder Taubheit“. Und „selbst der Nachweis natürlicher Krankheitsursachen ist noch kein Gegenbeweis dafür, daß keine dämonischen Begleitumstände vorliegen“. Was lernt uns das? Doch wenigstens, daß Pastor Müller und all die anderen aus Lemgo- Lieme, die ihn anno domini 1979 zum zweiten Mal auflegten, nicht daran glauben, daß der Mensch vom Affen abstammt.

Bedenklich auch die Folgen auf seelischem Gebiet: „Angstzustände, Bettnässen, Eigenwilligkeit, starke sexuelle Triebhaftigkeit, Jähzorn, Klatschgeist, Kleptomanie und Schlafwandeln“. Naturgemäß am allerschlimmsten sind freilich die Folgen auf geistlichem Gebiet: „Stumpf gegen alles Göttliche, ohne inneren Frieden, geistlicher Hochmut, Pharisäismus, hartnäckiger Unglaube“ und – im letzten Stadium – „Einschlafen beim Hören des Wortes Gottes“.

Und was sagt der Evangele jetzt? Nachdem auch er „in dumpfer Höllenmelodie den Doppelschlag der Nacht-Uhr“ vernommen hat? Er kann sich nur abwenden, beschämt und kleinlaut. Sonst bleibt er, ein allerletztes Mal mit Pastor Müller gedroht: „Immer verloren – nimmer erlöst! Immer gebunden – nimmer frei!“ Da erschrecken wir uns in Zukunft doch lieber wieder selber. Barbara Häusler