Kostenkrise läßt sich nicht wegdiskutieren

■ Interview mit Professor Norbert Walter, Chefökonom der Deutschen Bank

taz: Die Ökonomen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) meinen, daß es sich bei der aktuellen Krise nicht um eine Standort- und Kostenkrise, sondern im Kern um eine tiefe Rezession handelt. Gibt es gar keine Kostenkrise in Deutschland?

Norbert Walter: Es gibt gewiß ein konjunkturelles Problem, aber ich glaube schon, daß die gegenwärtige Krise strukturelle Ursachen hat und zum Teil auf den überhöhten Kosten der Arbeit in Deutschland beruht. Mir scheint, daß auch die Berliner nicht ganz an ihre Diagnose glauben, denn sonst hätten sie nicht die fortgesetzte Lohnzurückhaltung als ein wichtiges Therapieelement fordern können.

Die Lohnpolitik ist nach Ansicht des DIW auf Kurs. Dagegen werden die Ausgabenkürzungen des Staates als kontrapoduktiv eingeschätzt, und es wird eine drastische Zinssenkung verlangt.

Unter dem konjunkturellen Aspekt würde ich die von den Berlinern geforderte Aussetzung der Ausgabenkürzungen auch durchaus befürworten. Man muß bei einem solchen Vorschlag aber eine wichtige Einschränkung beachten. Es kommt darauf an, welche Wirkungen ein solches Verhalten des Staates auf das Vertrauen in der Bevölkerung und in den Finanzmärkten hat. Wenn jemand, der bisher Alkohol trinkt, sagt, ich höre auf zu trinken, aber aus bestimmten Gründen dies erst für das Jahr 1996 verspricht, wird dies seine Mitmenschen nicht überzeugen. Wer also Besserung gelobt, muß gewissermaßen umgehend Besserung zeigen. Genau in diesem Dilemma befindet sich die staatliche Finanzpolitik, deren Glaubwürdigkeit verlorengegangen ist. Deshalb ist das Berliner Rezept zwar theoretisch attraktiv, aber praktisch nicht wirksam.

Die Bundesbank hat einen Zinssenkungsspielraum, und den wird sie im Verlauf dieses Jahres aller Voraussicht nach auch nutzen. Die Geldmarktzinsen dürften wohl um zei Prozent gesenkt werden. Diese Politik wird mit der üblichen Verzögerung von etwa zwölf Monaten dann auch helfen, die inländische Nachfrage wieder etwas anzukurbeln. Darüber gibt es mit den Berlinern keinen Streit.

Das DIW hat gestern Zahlen zur Entwicklung der Stückkosten vorgelegt, die zeigen, daß der Standort Deutschland im Vergleich zu den Hauptkonkurrenten gar nicht so schlecht dasteht.

Ich habe andere Zahlen. Ich kenne das, was die Berliner dazu seit dem Sommer letzten Jahres immer wieder vorgetragen haben. Die Zahlen, auf die man sich stützt, sind vergleichsweise alt. Die Kostenüberbelastung ist in den letzten zwei Jahren wegen mangelnder Lohnzurückhaltung in Deutschland erstens enorm in die Höhe geschnellt. Zweitens kam die Aufwertung der D-Mark innerhalb Europas hinzu. Dadurch wurde die Situation erheblich schwieriger. Drittens ist die Steuer- und Abgabenlast in die Höhe gegangen. Auch dies erhöht die Arbeitskosten. Anders als in unseren Konkurrenzländern geht das in den nächsten zwei Jahren noch weiter.

Der frühere Bundesarbeitsminister Herbert Ehrenberg hat vor kurzem von der „Lohn-Lüge“ geschrieben. Obwohl die Unternehmereinkommen von 1979 bis 1989 wesentlich stärker als im Jahrzehnt zuvor und als die Lohn- und Gehaltssumme gestiegen seien, habe es bei den Anlageinvestitionen ein wesentlich geringeres Plus als zwischen 1969 und 1979 gegeben.

Die Einkommensstatistiken bilden die Wirklichkeit nicht korrekt ab. Die Einkommenswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland ist immer mehr dadurch gekennzeichnet, daß private Haushalte Einkommen beziehen, das seiner statistischen Erfassung nach Einkommen aus Unternehmertätigkeit ist: Zinsen, Dividenden, Mieteinnahmen. Die Statistik gibt also nicht wieder, was Unternehmer- und Arbeitnehmerhaushalte tatsächlich zur Verfügung haben. Der Bezug auf die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung wird in diesem Bereich immer unsinniger.

Sind die Gewinne nicht stärker als die Löhne gestiegen?

Da muß man differenzieren. Von 1982 bis 1987 sind die Unternehmereinkommen stärker gestiegen als die Löhne. Von 1988 bis 1992 haben die Löhne nachgezogen. In den Jahren 1991/92 haben die Gewinne in der Industrie besonders gelitten, danach in der Wirtschaft insgesamt. Vermutlich wird sich die Relation ab 1994 wieder zugunsten der Unternehmereinkommen verändern. Der Zehnjahresdurchschnitt ist also nicht besonders hilfreich. Interview: Walter Jakobs