Die Wahlforscher als Gewinner des Jahres

Noch nie in der Geschichte der BRD gab es in einem Jahr so viele Wahlen wie 1994. Selten auch waren so viele Unbekannte im Spiel: Kommen die Rechtsradikalen in den Bundestag, schafft die PDS die Fünfprozenthürde, reicht es für Rot-Grün, oder ginge nur eine Ampelkoalition als Alternative zur Großen Koalition?

Die Deutschen vor der Qual der Wahl: Achtzehnmal entscheiden die BürgerInnen 1994 über die künftigen politischen Konstellationen – in den Kommunen und Kreisen von neun Bundesländern, in sieben Landesparlamenten, im Bund und in Europa. Zugabe im Mai: die Besetzung des höchsten Staatsamtes.

Die Stimmungslage vor dem Wahltaumel: eine Mischung aus Faszination und Frustration. Immerhin, auf dem Höhepunkt der Krise könnte die Unzufriedenheit mit den Bonner Verhältnissen den überfälligen Wechsel erzwingen. Doch die Qual des Wahljahres resultiert weniger aus der Schwierigkeit der Wähler, sich für die politische Innovation zu entscheiden; Eher schon kommt die Unlust am Wahlmarathon aus dem Zweifel, ob sich die Alternative überhaupt im Angebot befindet. Die Lösungsvorschläge zu den alles dominierenden Problemfeldern Arbeitslosigkeit, Finanzkrise und Zukunft des Sozialstaates sind kaum in Sicht, und schließlich ist nicht nur die etablierte Politik, sondern auch die Gesellschaft ihren kreativen Beitrag zur Krisenbewältigung nach 1989 schuldig geblieben. Die Stagnation ist wechselseitig. Ihr entspricht die deprimierendste Vorstellung zum Wahljahr: Die Chance des politischen Wandels könnte sich als Suggestion erweisen, die nach der Bundestagswahl ins große Dementi mündet – dem Pakt der gebeutelten Volksparteien – begründet mit der plausibel klingenden Formel, das Ausmaß der Krise erfordere die Konzentration der Kräfte. Trümmerbeseitigung als Herausforderung für die Große Koalition.

Darin läge zugleich die Begründung für die Absage an einen rot- grünen Wechsel: keine Reformspielräume, keine Experimente. Immerhin, Hinweise auf die Überlebensfähigkeit von Rot-Grün wird der erste Wahlgang des Jahres am 13. März in Niedersachsen erbringen. Die Prognosen für die SPD Gerhard Schröders, der das Reformsignet seiner Koalition gerne mit ausgreifenden Vorstellungen zu Rüstungsproduktion und -export konterkariert, liegen stabil über der 40-Prozent-Schwelle. Koalitionsinterne Kritik der Grünen gehört mittlerweile zum Alltag, die Fortsetzung des Bündnisses, wenn es denn reicht, steht dennoch nicht in Frage. Das neugewonnene reformerische Profil der Landes-CDU hat, allen Umfragen zufolge, ihre Chancen nicht verbessert. Grund: der Sog der Bundespartei. Helmut Kohl jedenfalls ist kaum zu beneiden. Jede Entscheidung gegen die Union vor der Bundestagswahl wird zuerst auf seine Politik zurückgeführt werden. Jedes negative Ergebnis wird seine Chancen auf den vierten Wahlsieg weiter minimieren.

Deshalb wird Kohl alles daran setzen, am 23. Mai einen Unions- Kandidaten als Weizsäcker-Nachfolger durchzubringen. Nichts jedenfalls käme der Union ungelegener als eine Niederlage in der Bundesversammlung und die damit verbundene Erinnerung an die Wahl Gustav Heinemanns 1969, auf die wenige Monate später der sozial-liberale Machtwechsel folgte.

Die Europa-Wahl am 12. Juni, die parallel zu Kommunalwahlen in sieben Bundesländern stattfindet, könnte leicht zur Repräsentativumfrage für die bundespolitische Entscheidung verkommen. Sie wird Aufschluß über die Attraktivität des antieuropäischen Populismus der „Republikaner“ erbringen, die beim letzten Europa-Wahlgang ihren ersten bundesweiten Triumph feiern konnten. Die These, die Rechtsradikalen in den Parlamenten würden sich ganz von alleine ad absurdum führen, hat Schönhuber im Europaparlament eindrucksvoll bestätigt. Alle seine Fraktionskollegen kamen ihm im Laufe der Legislaturperiode abhanden. Fraglich ist, ob ihm das schaden wird. Das Europa-Ergebnis der „Republikaner“ gilt als Indikator für ihre Chancen auf den Einzug in den Bundestag.

Herausragende Bedeutung gewinnt die Europa-Wahl für die CSU. Vierzig Prozent in Bayern sind Pflicht, um die bundesweite Fünfprozenthürde zu nehmen. Mit seiner Forderung nach einer europapolitischen Kurswende hat sich der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber schon mal für die Konkurrenz mit Schönhuber warmgelaufen. Selbst die FAZ bestätigt der CSU programmatische Überschneidungen mit den „Republikanern“. Für die Christ-Sozialen gilt die Europa-Entscheidung als Generalprobe für die Landtagswahl im Oktober, bei der sie, den Umfragen zufolge, ihre absolute Mehrheit einbüßen wird. Die CSU wäre auf einen Koalitionspartner angewiesen. Die SPD-Herausforderin Renate Schmidt hat bereits Interesse signalisiert.

Im September und Oktober, in Sachsen-Anhalt voraussichtlich schon im Juni, werden die Landtage im Osten gewählt. Zumindest die CDU/FDP-Regierungen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt gelten als nicht zukunftsträchtig. In Sachsen-Anhalt dürften die Nachwirkungen der Gehälteraffäre sowie die ökonomische Situation negativ zu Buche schlagen. In Mecklenburg regiert Berndt Seite bereits jetzt mit einer Ein-Stimmen-Mehrheit, die gegen den Enttäuschungs-Trend im Osten nur schwer zu verteidigen sein wird. Die Regierung unter Ministerpräsident Bernhard Vogel in Thüringen gilt als relativ stabil, die Mehrheit trotz schwacher SPD als nicht sicher.

Bleiben die Ost- Landesväter. Zwar konnte Manfred Stolpes SPD bei den zurückliegenden Kommunalwahlen zulegen – doch zur Fortsetzung seiner Ampel-Koalition hätte das Ergebnis nicht gereicht. Bündnis 90/Die Grünen, die sich im Zuge der Vereinigung vom regierenden Bürger-Bündnis abgespalten haben, kamen bei den Kommunalwahlen nur auf gut vier Prozent.

Noch unangefochten regiert Kurt Biedenkopf in Sachsen. 75 Prozent Zustimmung weisen die Umfragen für den Ministerpräsidenten aus. Doch wie stark der Anti-Unions-Trend greift, zeigt die Popularitätskurve der Partei: 40 Prozent. Kann Biedenkopf die absolute Mehrheit nicht verteidigen, wird in Dresden eine bundesdeutsche Premiere nicht ausgeschlossen: Schwarz/Grün.

Die PDS wird sich in allen Ost- Ländern als Regionalpartei behaupten. Ihr werden 15 bis 20 Prozent im Norden, im Süden deutlich über zehn Prozent zugetraut. Daß sich Gregor Gysis Hoffnung auf gesamtdeutsche fünf Prozent bei den Bundestagswahlen erfüllen, gilt, trotz der Renaissance bei den brandenburgischen Kommunalwahlen, als wenig realistisch. Den Wiedereinzug in den Bundestag will die PDS über den Gewinn von drei Direktmandaten erreichen.

Wahlenthaltung, die Anziehungskraft populistischer Appelle und die Akzeptanz der großen Volksparteien sind die Indikatoren, an denen sich im kommenden Herbst die Stabilität der politischen Verhältnisse ablesen lassen wird. Noch gilt nach den Umfragen als eher unwahrscheinlich, daß die Sozialdemokraten allein mit Scharping und dessen programmatischer Schrumpfkur vom erwarteten Tief der Union maßgeblich profitieren können. Lassen sich die stabilen Prognosen für die Grünen, denen vor allem das oppositionelle Bonner Vakuum zugute kommt, in Wählerstimmen umsetzen, und schaffen die Liberalen die neuerliche Wende, ist eine Ampel zwar numerisch nicht ausgeschlossen. Doch je enttäuschender das Wählerurteil für die beiden Großen ausfällt, desto attraktiver wird ihnen das vermeintlich risikolosere Bündnis erscheinen. Daß eine Große Koalition erfolgreicher agieren wird, als derzeit beim chronischen Pflege- und Finanzstreit, ist bislang nicht mehr als die Wunschvorstellung ihrer heimlichen Verfechter. Mattias Geis