Die Pünktlichkeit des Gartenzwergs

■ Im Berliner Ensemble wurden Texte von Johannes R. Becher gelesen

Ein konfuses Sprachkonglomerat sei die „Winterschlacht“ von Johannes R. Becher, schrieb Sabina Lietzmann in der FAZ anläßlich Bertolt Brechts Inszenierung dieses Dramas im Januar 1955. Ein Antwortbrief von Helene Weigel auf diesen Vorwurf fand sich im Archiv des BE. Im Auftrag des damaligen Dramaturgen Peter Palitzsch bat sie um eine Berichtigung. Bei genau der Textstelle, die Lietzmann angeführt hatte, handelte es sich um ein Originalzitat von Hölderlin. Eine hübsche Anekdote, die die Lesung von Becher-Texten am Donnerstag abend auf der Probebühne des Berliner Ensembles eröffnete.

Die Veranstaltung war gut besucht, und vermutlich galt das Interesse weniger dem dichterischen Erbe des ehemaligen Kultusministers der DDR als den vortragenden Autoren Katja Lange-Müller und Thorsten Becker. Nacheinander lasen sie ihre Textauswahl – ein Blick auf Becher aus östlicher und westlicher Sicht. Als eine Art Vergangenheitsbewältigung hatte Katja Lange-Müller die der Lesung vorangegangene Arbeit bezeichnet. Sie hat nicht nur das Johannes-R.-Becher-Institut absolviert, sondern kam auch in den Genuß der Becherschen Kulturpolitik. Ironisch-distanziert trug sie die Texte vor. Mit wohliger Heiterkeit demaskierte sie den Autor und seine kunsttheoretischen Ansichten: „Was wir brauchen, ist anständiges Mittelmaß bester Ordnung“, oder „Der Gartenzwerg ist nicht der Feind Nummer eins.“ Bechers Auslassungen zu seinem poetischen Prinzip („sich pünktlich ausdrücken“) wurden gefolgt von zwei seiner Gedichte über Stalin. Ein Abgesang.

Becher, der seine Geliebte 1910 umbrachte und danach die Waffe mit weniger Erfolg gegen sich selbst richtete, schrieb hierzu an Richard Dehmel: „Ich habe ein geistig und körperlich krankes Mädchen auf ihr oft und ernstliches Verlangen hin im Augenblick ihrer höchsten Seligkeit getötet. Ich habe nicht mehr die Kraft gehabt, diesen Anblick usw., kurz mein Leben, zu tragen.“ Ein biographisch anmutendes Konglomerat (um Antwort wird gebeten) ist das Prosafragment aus „Verfall und Triumph“, Erscheinungsjahr 1914. Es beschreibt die Liaison mit einer Prostituierten, Tötungssehnsüchte, die durch das freiwillige Ableben der Geliebten aber nicht zur Ausführung gelangen. Lange- Müller zeichnete Becher nicht nur als literarischen Bastian. Ihre pointierte Polemik über den morphiumsüchtigen Autor endete mit einem Adolf-Endler-Zitat: „Becher, ein Fixer bis zuletzt.“

Der Titel der Veranstaltung „Wir haben Filzläuse, Tripper und Krätze“ war für Katja Lange-Müllers Part treffend gewählt. Thorsten Becker dagegen wäre mit einer hymnischen Überschrift besser vertreten gewesen. Den westlichen Blick vertretend, hätte seine Lesung heißen können: „Wo ist die Glut und wo der Übermut, / Daß wieder solche Verse uns beglücken.“ Becker ging mit jeweils einem Text zum Vortragstisch, rezitierte im Stehen, um danach wieder hinter der Bühne zu verschwinden und Nachschub zu holen. Etwas außer Atem, interpretierte er das Vorgetragene zudem noch mit pathetischer Oh-Mensch-Gestik. Unfreiwillige Komik oder etwa doch eine Persiflage? Stellte Becker eine Gruppe lesender Arbeiter dar, die anläßlich einer Festivität im Literatur-Erziehungs-Institut Leipzig nacheinander auf die Bühne treten und Gedichte des verehrten Genossen Johannes R. rezitieren?

Thorsten Becker hatte seine Textauswahl auf das lyrische Werk beschränkt. Er präsentierte die Gedichte stark rhythmisiert. Die Sprachmelodie dominierte letztlich vor dem Inhalt: ein Becher- Rap. Merkwürdig wirkten diese beiden Veranstaltungsteile hintereinander. Das angekündigte Gespräch im Anschluß an die Veranstaltung entfiel unkommentiert. Ende der Lesung 20.45 Uhr – sich pünktlich verabschieden. Caroline Roeder