Das Kulturforum genannte Niemandsland zwischen Landwehrkanal und Tiergarten hat eine ungewisse Zukunft. Den Bauten des Kolossal-Architekten Hans Scharoun droht ein Daseinsfrust als Restgröße am Potsdamer Platz. Von Rolf Lautenschläger

Im Ozonloch der Mitte verglüht

Mit kaum einem anderen Ort tun sich insbesondere die Westberliner so schwer wie mit dem sogenannten Kulturforum zwischen Landwehrkanal und Tiergarten. Die Architekturen von Hans Scharoun und Ludwig Mies van der Rohe sind nicht jedermanns Sache. Ihre Größe und Modernität provozieren. Der Koloß der Staatsbibliothek auf der einen, und, gruppiert um die Brache vor der Matthäi- Kirche und die Neue Potsdamer Straße, die Philharmonie, der Kammermusiksaal und die neuen Museen auf der anderen Seite lassen die Diskontinuität des Ortes erfahren. Wer Heimweh nach bergenden Stadträumen hat, bleibt dem Kulturforum besser fern.

Doch es ist falsch, diese Zerrissenheit der städtebaulichen Struktur allein den Stadtplanungsphantasien von Hans Scharoun anzulasten. Zwar gehört das Kulturforum zu jenen Gruppen funktionaler Inseln, die er in ein Netz von Stadtautobahnen einbetten wollte. Aber das noch immer beziehungslose Verharren der Solitäre in einem diffusen Nirgendwo ist heute einem Planungshickhack und einem konservativen Bewußtsein kultureller Identität geschuldet, das nun wieder aufflammt.

Berlin verfügt im wesentlichen über vier große Orte der Musealität: die Museumsinsel, das Kulturforum am Kemperplatz, die Museen in Dahlem und die in Charlottenburg. Diese museale Dezentralität ist in Gefahr, wie ein gedehntes Band zusammenzuschnurren auf den kulturellen Bannkreis der Mitte. Und seit der besoffenen Euphorie des Mauerfalls entwickelt sich die alte Mitte mit dem Pergamonmuseum, dem Bodemuseum, dem Alten Museum, dem Zeughaus und der Nationalgalerie nicht nur in Konkurrenz zum Kulturforum, sondern sucht die Doppelfunktion für sich zu entscheiden. Die musealen Koordinaten hat der Berliner Senat anders definiert. Es gilt: Alles aufs alte Zentrum.

Für die westliche Nachkriegsschöpfung Kulturforum muß man Sorge haben, daß sie, ausgedünnt, umgestaltet und umfunktioniert, im Ozonloch der Mitte-Debatte verglüht. Volker Hassemers Stadtidee, beim Weiterbau an vielen Orten Berlins die jeweils spezifische Identität des Areals auszuloten, scheint für das Kulturforum nicht zu gelten. Dafür gibt es Indizien: Schon beim Wettbewerb Potsdamer Platz 1991 legte der Senator Wert darauf, die Auslobung für das Areal aus der Perspektive der Vorkriegsarchitektur zu formulieren. Die Moderne des Kulturforums wurde darin quasi erledigt. 1992 legte die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung ein Gutachten auf den Tisch, das die Scharoun-Planung diskreditierte und nach neuen Funktionen und Nutzungen für den Ort rief. Das Kulturforum wurde dabei antimodern vermint.

Der Gedanke an die Vollendung des Kulturforums auf der Grundlage der Planung von Hans Scharoun, wie es ein Senatsbeschluß von 1987 fordert, scheint obsolet zu sein. Denn zum finalen Schlag holt erneut die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung aus, die nun im Frühjahr 1994 ein „Gutachterverfahren zur Neugestaltung des Kulturforums“ ausloben will. Man braucht kein Prophet zu sein, um zu vermuten, daß die Idee der Scharounschen Planung, nämlich eine „Stadtlandschaft“ im Wechselspiel naturräumlicher Gegebenheiten und organischer Architekturen zu schaffen, von den aktuellen konservativen Stadtbild- Ideologien überformt wird. Die gegenwärtigen Wettbewerbs-Ordner schauen wie Schulmeister auf Traufhöhe und Blockrand, Achsen und Ecken. Expressive Architekturen haben gegen die Klötze keine Chance. Wer sich bewegt, verliert. Der Konflikt erinnert an den letzten „Kampf ums Kulturforum“ Anfang der achtziger Jahre. Damals übertrug der Wiener Architekt Hans Hollein in postmoderner Manier die lange Kolonnade der östlichen Museumsinsel an den Rand der Neuen Potsdamer Straße und hoffte, das zugige Ensemble mit einer Gebäudemauer „urban“ zu fassen. Holleins Konzept bildete eine Kulisse inmitten der Scharounschen Bauten. Die räumliche Beliebigkeit, die bis heute durch jene Leerstellen gesteigert wird, für die Scharoun ein Kultur- und Gästehaus sowie ein Musikarchiv geplant hatte, wäre mittels starrer Achsen inmitten dynamisch aussehender Baugebirge am Rande einer sechsspurigen Rennbahn erst recht nicht überwunden worden. Die Hollein- Pläne blieben, was sie waren: Papier.

Knapp zehn Jahre später geht es weniger um Architekturspielerei, sondern hauptsächlich um die Unterwerfung des Ortes unter ökonomische Interessen und deren rückwärtsgewandte Bilder von Urbanität: Kultur versus Kapital, Stadtlandschaft gegen Daimler-City. Renzo Pianos Planung für das Bauvorhaben von Daimler-Benz behandelt schon jetzt die Funktionsfähigkeit des Kulturforums als Restgröße im Schatten der Konzerngebäude. Die herrischen Begehrlichkeiten des Unternehmens beschneiden das Kulturforum nicht nur, sie diktieren ihm seine künftige Planung. Es ist trostlos, daß ausgerechnet Berlins Senatsbaudirektor, Hans Stimmann, die architektonische Lösung für Daimler-Benz nur als städtebauliche „Wiedergutmachung“ der baulichen Fehler des Kulturforums versteht. Stimmann: „Renzo Piano ist es gelungen, die erdrückende Wand des Magazins der Staatsbibliothek zum selbstverständlichen Teil einer Gesamtkonzeption unter Einschluß des Kulturforums zu machen und es aus seiner Isolation zu befreien. Zugleich wird damit ein Aus- und Übergangspunkt in die historische Mitte geschaffen.“ Die geplante Realisierung des Musical-Theaters, des Casinos und der Wasserfläche an der Ostseite der Staatsbibliothek würde die vorgesehene Erweiterung des Bibliotheksbaus verhindern. Zugleich bedeutete die Verlegung der Neuen Potsdamer Straße als verlängerte Achse („Übergangspunkt“) der Leipziger Straße mit einer scharfen Kurve über den Parkplatz vor der Philharmonie, daß sowohl die Scharounsche Planung des Musikarchivs als auch die städtebauliche Figur des Forums vor dem Kultur- und Gästehaus unmöglich gemacht würden oder nur in veränderter Form umsetzbar wären. Eine gerade Straßenführung, kritisiert Edgar Wisniewski, früherer Mitarbeiter Hans Scharouns, „würde das geplante Herzstück, das Kunsthotel mit Restaurants, Galerien und Sälen, auf der jetzigen Freifläche zu einer Blockrandbebauung herabsetzen. Das Achsendenken und die Blockstruktur aber lassen jede Sensibilität gegenüber den vorhandenen Gebäuden vermissen.“

Auf die Piano-Planung hatte einst die Senatsbauverwaltung wie entfesselt reagiert. Doch anstatt kühlen Kopfes die stadtplanerische Unseriosität in dem Wasser- Musical-Spielbank-Entwurf zu erkennen, setzte sich die Berliner Bauverwaltung deutlich über die Zusage hinweg, den Erweiterungsbau der Staatsbibliothek von 21.000 Quadratmeter Nutzfläche zu respektieren. Die vorgesehene Erweiterung östlich des Hauses, sagt Wolfgang Kahlke, Pressechef der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, „sind durch die Debis-Bauten nun unmöglich gemacht worden. Die Stiftung hat einen Kompromiß angeboten, nämlich eine südliche Erweiterungsfläche bis zum sogenannten Canaris- Haus am Landwehrkanal offenzuhalten. Bausenator Nagel und der Architekt Piano wichen nicht von ihren Vorstellungen ab, schlugen aber kleinere Ersatzflächen vor, auf der die Stiftung unverhältnismäßig hoch hätte bauen müssen. Es ist unverständlich, den Bibliotheksbau einer dekorativen Wasserfläche zu opfern.“ Auch der Innenausschuß des Bundes kritisiert die Planungen, die das Berliner Kulturforum betreffen und droht notfalls mit dem Einsatz von Rechtsmitteln. „Das Ensemble der von Hans Scharoun entworfenen Bauten“, faßt Hans Gottfried Bernrath, MdB, die Forderungen des Innenausschusses zusammmen, „ist ein wichtiger Beitrag zur Architektur des 20. Jahrhunderts. Die notwendigen Erweiterungsbauten müssen in einer Qualität entstehen, die dem Baudenkmal Staatsbibliothek entspricht. Auch wir lehnen Planungen ab, die das hierfür erforderliche Gelände für das Musical-Theater, eine Spielbank und einen Teich nutzen wollen.“ Diese Forderungen nach einer Änderung des Bebauungsplans haben dazu beigetragen, daß kurz vor Weihnachten der starre Verlauf der Neuen Potsdamer Straße in Teilen zurückgenommen und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz eine lächerlich größere Fläche als vorher im Süden und Nordosten der Staatsbibliothek angeboten wurde. Man sei dabei, das zu bewerten, meint Kahlke entmutigt. Nicht vom Tisch allerdings ist das Grundsätzliche: daß das Kulturforum „neu bewertet und neu über große Teile nachgedacht werden muß“, so Ulla Luther, Baudirektorin in der Berliner Bauverwaltung. „Die Solitäre haben heute ihre Kraft verloren. Auch Scharoun würde jetzt so nicht mehr bauen.“ Nach den politischen Veränderungen, so Ulrike Plewnia, Pressesprecherin im Hause Hassemer, „haben sich auch die Gegebenheiten verändert“.

In der gegenwärtigen Diskussion wird übersehen, daß die Planungen für Daimler-Benz und Sony, Hertie und ABB den Potsdamer Platz zu einem wie auch immer gearteten Ort entwickeln werden, der alles andere als ruhig, erholsam, locker und luftig sein wird und der die Ideale einer organisch geformten Stadtlandschaft geradezu verhöhnt. Die Rückkehr zur gemischten und verdichteten Kernstadt auch im Kulturforum praktizieren zu wollen, um der diffusen Stadtlandschaft Scharouns mit linearen Achsen und festen Blöcken endlich Halt zu geben, wäre aber falsch. Sie würde ihr die „Luft“ abdrehen. Da wäre es besser, weiter mit der Brache zu leben.

Man sollte sich die Zeit nehmen, den kapitalsten Fehler des Kulturforums – die Verkehrsfläche für rasende und parkende PKW – zu überdenken. Die Solitäre Scharouns im Stadtbild starren sämtlich auf die stinkend und brausend befahrene Neue Potsdamer Straße, statt sich „gemäß ihrer Naturphilosophie, an den kaum weit entfernten Tiergarten zu halten“, wie einmal Matthias Schreiber in der FAZ schrieb. Und besteht nicht die Chance, das Forum in den bewahrten Dimensionen und Proportionen fertigzubauen und es als grünen Campus mit bewegten Räumen zu entwicklen? Was wäre es für eine Vorstellung, zwischen den heute noch verlegen dastehenden Bauten einmal gehen, sitzen und liegen zu können, ohne daß der Autoverkehr als dominante Sichel darin einschneidet? Was wäre es für eine Vorstellung, die Institutionen für Musik, bildende Kunst und das Wissen nicht als Restgröße zu haben, sondern als eigenwilligen Ort. Als grüne Landschaft mit einzelnen Architekturen, die die Stadt mitprägen.