„Boxen ist wie eine Religion“

Die beiden New Yorker Amateurboxer Dewayne „Thor“ Myers (23) und Carl Jones (21) geben Auskunft über ihre Vergangenheit, ihre Zukunftsperspektiven und ihre Erfahrungen im Ring  ■ Text und Fotos: André Lützen

taz: Wo hast du das Boxen gelernt?

Dewayne „Thor“ Myers: Ich lernte das Boxen vor zwei Jahren, als ich zum ersten Mal in die „Al Myra Besserungsanstalt“ in Uptown New York kam. Sie hatten eine Menge Erziehungsprogramme und ich habe Boxen gewählt. Ich lernte die Grundlagen. Seit drei Monaten nehme ich das Boxen richtig ernst. Nachdem ich einen Monat geboxt hatte, nahm ich am „Golden Gloves“-Turnier teil. Ich habe drei von vier Kämpfen gewonnen und im Halbfinale verloren. Ich bin mit der Niederlage umgegangen wie ein Mann. Ich habe das Gefühl, daß ich damit umgegangen bin, wie ein Champion mit einer Niederlage umgeht, bevor er Champion wird. Jeder verliert. Sogar Leute, die jetzt Champions sind, haben in ihrer Amateurkarriere verloren. Wenn du verlierst, bedeutet das nicht das Ende, es bedeutet nur, daß du einen Punkt in deiner Karriere erreicht hast, an dem du vorankommen mußt, besser werden mußt bei dem, was du tust. Mir macht das Verlieren nicht soviel aus. Ich betrachte es als eine Art, mich dazu zu bringen, ein besserer Boxer zu werden. In Kämpfen, die du gewinnst, machst du auch eine Menge Fehler. Aber wenn du einen Kampf gewinnst, guckst du kaum als etwas Schlechtes darauf zurück, denn du hast ja dein Ziel erreicht. Wenn du einen Kampf verlierst, schaust du genau darauf zurück, was passiert ist, wie du dich im Ring gefühlt hast, und auf die Dinge, die du falsch gemacht hast.

Wie fühlst du dich im Ring. Nimmst du das Publikum wahr?

Ich bin mir des Publikums bewußt. Ich achte sehr darauf, was die Leute sagen und wie sie auf Schläge und Kombinationen reagieren. Das ist eine sehr schlechte Angewohnheit, denn alles in allem sollte ich im Ring allein sein und mich um meine Angelegenheiten kümmern.

Was hat dich zum Boxen gebracht?

Meine Bewunderung für gewisse Boxer hat mich inspiriert. Ich mag die Aufmerksamkeit, die ich kriege, wenn ich einen Kampf gewinne. Ich mag das Lob, das ich kriege, wenn ich etwas richtig mache. Boxen ist nicht nur ein Sport für mich. Es ist etwas, das ich sehr ernst nehme, etwas, das mir am Herzen liegt. Boxen heißt nicht nur Schläge austeilen, du mußt denken. Du mußt wissen, was du tust. Du mußt die ganze Zeit, wenn du im Ring bist, denken, aber das Schlagen muß eine natürliche Reaktion sein, wie das Atmen. Du mußt dir nicht vornehmen zu atmen, weil es etwas ist, das du tun mußt.

Was hast du getan, bevor du vor drei Monaten angefangen hast zu boxen?

Nun, ...ich war im Gefängnis.

Warum?

Ich rannte rum und tat eine Menge Dinge, die ich nicht hätte tun sollen. Ich klaute Schmuck von den Hälsen der Leute, verkaufte Drogen und solche Dinge.

Hast du dich während der zwei Jahre im Gefängnis verändert?

Ja, denn eine Menge Dinge passierten in den Jahren, die ich eingesperrt war. Als Ergebnis meines Eingesperrtseins sind die Mutter meines Babys und ich nicht mehr zusammen. Meiner Mutter tat es wirklich weh, daß ich im Gefängnis war. Es änderte eine Menge, daß ich zwei Jahre meines Lebens verlor. Ich hätte eine Menge erreichen können. Ich tat es nicht. Ich würde wahrscheinlich jetzt nicht boxen, wenn ich nicht ins Gefängnis gekommen wäre. Wahrscheinlich.

Was glaubst du, was du jetzt tun würdest?

Auf eine Art hat mich die Tatsache, daß ich im Knast war, vor einer Menge Ärger draußen bewahrt. Eine Menge Freunde wurden getötet oder ermordet, als ich eingesperrt war. Darum kann ich nicht sagen, ob ich auf der Straße erschossen worden wäre oder nicht. Als meine Schwester mich besuchte, sagte sie: „Ich bin nicht froh, dich im Gefängnis zu sehen, aber ich bin froh, daß du nicht da draußen bist, weil so viele getötet werden.“ Ich habe mein Leben geändert, aber ich bedaure, daß ich ins Gefängnis gehen mußte, um einzusehen, daß die Dinge, die ich tat, falsch waren.

Wie war das Leben im Gefängnis?

Im Gefängnis mußte ich von meiner eigenen Kraft leben, ich mußte meine eigene „Gang“ sein. Ich mußte mir Respekt bei den Leuten verschaffen, sonst hätten sie mich eingemacht. Als ich in „Al Myra“ war, wurden drei Leute wegen völlig blöder Dinge umgebracht. Ich erinnere mich besonders an einen Typen, der erstochen wurde, weil er einen anderen zu lange angesehen hatte. Zwei Jahre lang las ich jede Nacht Bücher, die mir ein besseres Verständnis der Dinge beibrachten. Ich lernte, frei zu sprechen. Ich bin eine gebildete Person. Ich weiß mehr als eine Menge Leute in meinem Alter.

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taz: Wie bist du zum Boxen gekommen?

Carl Jones: Ich begann das Boxen zu lieben, nachdem ich die Profikämpfe im Fernsehen gesehen hatte. Wir imitierten sie auf der Straße. Wir spielten Boxkampf. Ich kämpfte oft auf der Straße, denn ich wurde häufig rausgesucht, als ich jung war. Ich war immer das Baby der Meute. Ich war immer der Jüngste von allen.

Was war mit deinen Eltern?

Meine Mutter und ich zogen nach North Carolina, als ich dreizehn war. Sie konnte Brooklyn nicht mehr ertragen. Mein Vater war in New York, meine Mutter unten im Süden. Ich zog mit siebzehn hierher zurück, um die Schule zu beenden, aber ich wurde eingesperrt. Ich hatte nur noch sechs Monate Schule vor mir.

Warum wurdest du eingesperrt?

Wegen Besitzes einer Feuerwaffe. Ich verbrachte 28 Tage im Knast. Es war Folter. Geistige Folter, keine physische. Den ganzen Tag habe ich auf meiner Pritsche gelegen, Musik gehört, oder ich machte Liegestütze. Immer wenn meine Arme nicht mehr so wehtaten, machte ich es wieder. Vielleicht tausend am Tag. Einfach Liegestütz auf Liegestütz.

Hast du im Gefängnis geboxt?

Nein. Die ganze Zeit haben mich die Wärter beobachtet, wie ich auf der Pritsche saß oder Liegestütze machte. Alles in allem war ich in einer guten geistigen Verfassung. Ich wünschte, ich könnte meinen Geist ins Gefängnis stecken, ohne physisch eingekerkert zu sein. Als ich vom Gefängnis nach Hause kam, war ich ein anderer Mann. Ich hatte zu kämpfen, um wieder auf die Füße, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Dann mit neunzehn wurde ich lockerer und konzentrierte mich strikt aufs Boxen. Ich habe keine Drogen angerührt und nicht damit gehandelt. Ich versuche nur, meinen Körper und meine Seele in Einklang zu bekommen. Jetzt bin ich 21 und nicht weit davon entfernt.

Wo boxt du?

Ich bin Mitglied des „Bed-Stuy Boxing Club“. Ich muß sagen, daß es vielleicht das beste Gym in New York City ist. Du findest da eine Kombination von Leuten aus

Brownsville, Bedford Stuyvesant, jede Menge Brothers aus Fort Green, hungrige Brothers, die das Geld brauchen und alles für den Titel tun würden. Dieselben Leute, die du auf der Straße rumlungern siehst, es sind Krieger, Krieger ohne Heimat.

Wie fühlst du dich, wenn du im Ring stehst?

Ich bin völlig locker. Ich tue, was ich tun muß. Wenn es Zeit ist, eine Bewegung zu machen, mache ich eine Bewegung. Wenn es keine Zeit ist, eine Bewegung zu machen, relaxe ich nur, beobachte mich, stehe auf den Zehenspitzen, bleibe aufmerksam, die Augen auf dem Mann, schaue ihn an. Ich habe kein Problem mit dem Kämpfen. Ich liebe das Kämpfen. Ich will nichts anderes tun. Es ist nur eine Frage der geistigen Verfassung. Ich denke an meine Familie. Meine Familie ist stark. Und ich sorge dafür, daß sie stark bleibt. Ich möchte nicht, daß meine Familie mich verlieren sieht. Aber, weißt du, die Zeiten sind hart, manchmal ist es nicht einfach, auf deinen Füßen zu bleiben. Du mußt mit der Strömung schwimmen, und das ist es, was ich langsam erkenne. Das Leben ist, was du daraus machst.

Was willst du aus deinem Leben machen?

Ich will ein Superstar werden. Ich will der König im Ring sein. Mittelgewichts-Weltmeister für mindestens fünf Jahre. Ich versuche, eine vollkommene geistige Verfassung zu kriegen. Ich trinke und rauche nicht und ich versuche, den Sex sein zu lassen.

Warum hast du ein Problem damit, auf den Sex zu verzichten?

Ich bin jung und in meiner Blüte — es ist hart. Ich habe einfach starke sexuelle Bedürfnisse. Ich habe schlicht Geschmack daran. Die Zeiten sind rauh, und ich fühle mich zu allen Frauen hingezogen.

Hast du das Gefühl, daß sich als Boxer dein Leben verändert?

Ich ändere mich nicht wirklich, aber die Dinge um mich herum schon. Diese hohen Gebäude, das ganze Geld. Es gibt so viel Geld in Amerika, und ich habe vor, mir eine Menge davon zu schnappen, das kannst du mir glauben. Boxen ist wie eine Religion, es ist sauberes Leben. Wenn du ein wahrer Boxer bist, führst du ein sauberes Leben. Du hast keine Zeit, irgendwas Dummes zu tun. Alles was du brauchst, ist Selbstdisziplin und Stolz.

Und den Willen zu überleben?

Ich brauche keinen Überlebenswillen, aber einen Willen, gesehen zu werden. Ich möchte gesehen und gehört werden.

Also brauchst du auch ein Ego.

Ego? Glaub mir, ich habe eines. Ich glaube, ich bin ein vollständiges Bündel. Ich habe alles, was ein Champion braucht, aber nur die Zeit wird es zeigen.