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Die Rechnung geht nicht auf

Im globalen Kohlenstoff-Kreislauf klafft eine riesige Lücke / Jährlich verschwinden über 1,8 Milliarden Tonnen des Kohlenstoffs spurlos / Gesucht wird jetzt auf dem Grund der Ozeane  ■ Von Andreas Weber

Seitdem angenommen wird, daß der steigende Kohlendioxidanteil in der Atmosphäre zu einer Erwärmung der Erdoberfläche führt, beschäftigt sich die Wissenschaft verstärkt mit einer Bilanzierung der globalen Kohlenstoffkreisläufe. Allerdings stößt die Rekonstruktion des Gesamthaushalts noch auf große Schwierigkeiten, wie kürzlich wieder auf einem Symposium der Berliner Freien Universität deutlich wurde. Auf der 73. Dahlemer Konferenz, welche die Rolle abgestorbener organischer Materie im globalen Kohlenstoffkreislauf zum Thema hatte, klaffte eine Lücke von sage und schreibe 1,8 Milliarden Tonnen in der Jahresbilanz von insgesamt sieben Milliarden Tonnen. Der Verbleib eines Viertels des insgesamt in die Atmosphäre freigesetzten Kohlenstoffs ist damit rätselhaft.

Das Kohlenstoffatom ist der Grundbaustein aller lebenden Substanz. Kohlenstoff gelangt in den organischen Kreislauf, wenn die Pflanze bei der Photosynthese aus dem in der Luft oder im Wasser enthaltenen Kohlendioxid mit Hilfe von Sonnenlicht Kohlenhydrate aufbaut. Durch die Atmung hingegen wird CO2 an die Atmosphäre abgegeben. Auch wenn ein Lebewesen stirbt, wird durch die Zersetzungsprozesse wieder CO2 frei. Auf diesen Zusammenhängen beruht der natürliche Kohlenstoffhaushalt. Stationen in diesem Kreislauf, an denen der Kohlenstoff für längere Zeit dem System entzogen wird, bezeichnet man als sinks. Ein Wald, in dessen Holz der Stoff für viele Jahre oder sogar Jahrhunderte festgelegt wird, ist so ein sink, ebenso das halbverrottete Pflanzenmaterial im Boden, der Humus, in dem die gewaltige Menge von 1,7 Billionen Tonnen Kohlenstoff gespeichert liegt.

Auch das Weltmeer speichert riesige Mengen des Treibhausgases Kohlendioxid. Etwa ein Viertel der jährlich freigesetzten Menge reagiert mit dem Wasser und wird darin als Kohlensäure gelöst. Da der Anteil des vom Meer absorbierten Gases entsprechend seiner atmosphärischen Konzentration zunimmt, wirkt der Ozean als gewaltiger Klimapuffer.

Obwohl die Zwischenlagerstätten und die Menge des in ihnen festgelegten Kohlenstoffs bekannt sind, ist es bisher nicht gelungen, den Verbleib des restlichen Anteils, des missing sink, wie es ein Wortspiel ausdrückt, nachzuvollziehen. Zwar ist aus den Laborexperimenten bekannt, daß Pflanzen bei einem höheren CO2-Angebot schneller wachsen und mehr Biomasse produzieren. Doch um den fehlenden Kohlenstoffanteil aufzunehmen, hätte die terrestrische Biomasse in diesem Jahrhundert um 20 Prozent zunehmen müssen, so die Ergebnisse des US-amerikanischen Umweltwissenschaftlers Wilfried Post. Dieser Zuwachs in der Vegetation wäre aufgefallen. Auch eine Akkumulation im Boden wird ausgeschlossen, da keine signifikante Anreicherung von Stickstoff gemessen werden kann, die aber durch den hohen Stickstoffanteil der meisten organischen Abfallstoffe zu erwarten wäre.

Wenn der fehlende Kohlenstoff in dem Teil der Erde, der den wissenschaftlichen Beobachtungen einigermaßen zugänglich ist, nicht aufgespürt werden kann, ist er möglicherweise dorthin verschwunden, wo er, Kilometer vom Tageslicht entfernt, dem menschlichen Nachweis fast gänzlich entzogen ist: in die Tiefsee. Von den Meeren, die zwei Drittel der Erdoberfläche bedecken, sind knapp 90 Prozent mehr als tausend Meter tief. Die Tiefsee ist damit der größte einheitliche Lebensraum auf unserer Erde, und gleichzeitig der unbekannteste. Über diesen inner space existieren bis heute nur wenige Daten. Nahm man bis in die achtziger Jahre an, daß die Tiefsee nicht nur sehr dünn besiedelt, sondern auch außerordentlich artenarm sei, haben aktuelle Bestandsabschätzungen das Bild vollkommen gewandelt. Im Gegenteil fand man gerade hier, in ewiger Dunkelheit und unter unvorstellbaren Drücken, einen Artenreichtum, welcher dem des tropischen Regenwaldes gleichkommen oder ihn sogar übertreffen könnte. Vorsichtige Schätzungen gehen von mindestens einer Million unbekannter Tierarten in der Tiefsee aus, bei einer Zahl von etwa 1,5 Millionen beschriebenen Arten auf der ganzen Erde.

Da bisher wenige Daten über den tiefen Ozean vorlagen, wurde seine Rolle im Gesamtökosystem Erde vernachläßigt. Abschätzungen über Kohlenstoffkreisläufe berücksichtigten nur die Prozesse im einige hundert Meter tiefen Oberflächenwasser. Vermutet wurde, daß die in der Biomasse des Phytoplanktons festgelegte Kohlensäure spätestens in mittlere Wasserschichten durch Abbauprozesse wieder freigesetzt werden müßte.

Neueste Ergebnisse britischer und deutscher Forschergruppen legten jedoch einen Weg nahe, auf dem zumindest ein Teil des gesuchten Kohlenstoffs aus dem See verschwunden sein könnte: nach unten. Wie chronologische Beobachtungen des Tiefseebodens im mittleren Atlantik belegen, ist die Sinkgeschwindigkeit abgestorbener Planktonalgen, des Phytodetritus, um ein Vielfaches höher als vermutet. War man bisher der Überzeugung, daß nur wenig organisches Material unzersetzt in größere Tiefen gelangen könne und daß der kohlenstoffhaltige Phytodetritus daher nur sehr spärlich und feinverteilt auf dem Meeresboden ankomme, konnte jetzt eine regelrechte Saisonalität des Nährstoffregens von oben ausgemacht werden. Auf Unterwasserfotos aus den Frühsommermonaten, wenn die Produktivität des Planktons an der Oberfläche ihren Höhepunkt erreicht, ist eine dichte Lage von grünem Algenmaterial zu erkennen. Der Vertikaltransport muß also in wenigen Tagen oder Wochen erfolgen. Möglich wird die hohe Sinkgeschwindigkeit dadurch, daß sich kleine Abfallpartikel wie abgestorbene Planktonalgen oder Kotbällchen winziger Krebse zu großen Flocken zusammenklumpen. Diese als marine snow bezeichneten Aggregate sind so schwer, daß sie schnell durch die Wassersäule zu Boden wandern.

Ist der Detritus erst einmal abgesunken, taucht er so schnell nicht wieder auf. Aus Gründen der Salzgehalts- und Temperaturschichtung des Meereswassers können über eine bestimmte Wassertiefe hinaus abgesunkene Partikel nicht mehr ohne weiteres an die Oberfläche gelangen. So ist ein rascher und effektiver Entzug von nicht oder kaum zersetzter Biomasse aus dem System gewährleistet.

Sollte tatsächlich in der Tiefsee ein weiterer sink des atmosphärischen Kohlenstoffs liegen, so ist darum noch nicht ein Teil des Klimaproblems für alle Zeiten gelöst. Ein sink ist immer ein Zwischenlager, dessen Inhalt eines Tages wieder in den globalen Kreislauf eingebracht wird, wie heute die fossilen Brennstoffe. Bis zu tausend Jahre kann es dauern, damit eine Tiefenwasserschicht wieder an die Oberfläche steigt und erneut mit dem atmosphärischen Haushalt in Verbindung steht. Was diese Verzögerungseffekte bei massiven Einwirkungen auf globale Ökosysteme eines Tages für Folgen haben werden, wissen wir heute nicht. Doch die Erde vergißt nichts. Der Kohlenstoff bleibt dem Kreislauf auf Kredit erhalten und wird früher oder später in der Bilanz wieder auftauchen.

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