Die Invasion der „Cucarachas“

San Cristóbal de las Casas, das malerische Städtchen im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas, hat innerhalb nur weniger Tage mehrere Invasionen erlebt: Am Neujahrstag besetzten indianische Guerilleros den Ort. Dann kam die Armee, die seither den Aufstand der Ureinwohner mit brutaler Gewalt unterdrückt. Und schließlich die Presse – die kein Pulver riechen durfte.

Kaum ist der alte Mann vor seine Lehmhütte getreten, um nachzuschauen, wer da in der Waldlichtung des Weges kommt, hält ihm eine entfesselte Horde von Journalisten schon ein Dutzend Mikrophone unter die Nase: „Wo hat die Bombe eingeschlagen?“ – „Haben die Soldaten Sie geschlagen?“ – „Sind Zapatisten aufgetaucht?“ – „Wo ist Ihre Frau?“ – „Haben Sie Kinder?“ – „Wie viele?“ Des Spanischen ist der Tzotzil-Indianer zwar mächtig, vielleicht kann er sogar drei Fragen auf einmal erfassen, aber beantworten kann er nicht eine. Da erlöst ihn ein Mann mit einer weißen Armbinde. Er stellt sich vor, erklärt sein Anliegen, stellt eine Frage, notiert sich die Antwort, nächste Frage, nächste Antwort. Dann zieht der Troß weiter.

San Cristóbal de las Casas, das hübsche Kolonialstädtchen im Süden Mexikos, hat innerhalb nur einer Woche drei Invasionen erlebt. Am Neujahrstag besetzten einige hundert Guerilleros der bis dahin unbekannten „Zapatistischen Befreiungsarmee“ (EZLN) den Ort, um die Weltöffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, daß es im Hochland von Chiapas fortan nicht nur Not und Elend gibt, sondern auch einen Widerstand, der bewaffnet dagegen ankämpft. Kaum waren die Rebellen abgezogen, rückten einige hundert Soldaten in die Innenstadt ein und halten seither den Hauptplatz besetzt. Am Donnerstag schließlich folgte das Gros der inzwischen etwa 500 Journalisten und besetzte die Hotels, die die Touristen fluchtartig verlassen hatten.

Doch der Frust der schreibenden und filmenden Zunft ist groß. Die Armee hat inzwischen sämtliche Ausfallstraßen gesperrt – mit Ausnahme der Straße nach Tuxtla Gutiérrez, der Hauptstadt von Chiapas, die aus dem Kriegsgebiet herausführt. So sitzt man in der Stadt fest, fern vom Schuß, riecht kein Pulver und bekommt keinen Guerillero vor die Kamera. Die Informationen über das Kriegsgeschehen kommen fast ausschließlich von Flüchtlingen und vor allem von einer der kämpfenden Parteien: der mexikanischen Armee. Wo Meldungen kaum nachprüfbar sind, werden sie um so schneller in die Welt gesetzt. Wo Informationen zurückgehalten werden, brodelt die Gerüchteküche.

Vergeblich protestierten die Journalisten. Vergeblich verlangte selbst Don Samuel Ruiz Garcia, der populäre Bischof der Stadt, der sich inzwischen als Vermittler angeboten hat, die Öffnung der Straßen, um die Versorgung der Dörfer zu sichern und den Nachrichten über Greuel und Massaker in den Kriegsgebieten nachgehen zu können. So beschloß schließlich eine stattliche Anzahl unabhängiger humanitärer Organisationen, die Informationsblockade offensiv zu durchbrechen. Sie kündigten an, man werde am Samstag gemeinsam nach Corralitos aufbrechen, um den dort Eingeschlossenen Hilfe zu bringen und aus erster Hand zu erfahren, was sich zugetragen hat. Corralitos ist der Ort, der in diesem Krieg als erster von Bombern der mexikanischen Luftwaffe angegriffen wurde.

Am Versammlungsort, bei der Kirche Santa Lucia in San Cristóbal, wenige Häuserblocks vom Hauptplatz entfernt, haben sich etwa 200 Humanitäre und fast so viele Journalisten eingefunden. Letzte Verhaltensregeln werden verlesen: bei der Militärsperre nur Diskussion mit den Soldaten, auf keinen Fall Provokation oder gar Gewaltanwendung, notfalls eben die Rückkehr antreten. Der Troß setzt sich in Bewegung, vorneweg Journalisten in Fahrzeugen, dann die vornehmlich weiß gekleideten Humanitären zu Fuß, danach eine Karawane von Fahrzeugen, auf denen oft sicherheitshalber auch auf dem Dach, nur von Göttern und Piloten zu sehen, in großen Lettern „Prensa“, Presse, steht.

Es geht zur Stadt hinaus, von Armeesperre keine Spur. Und dann zwei Stunden zu Fuß durch nebelverhangene subtropische Wälder in die Berge. Irgendwo ist auch der letzte Mietwagen an einem Steilhang steckengeblieben, und nun sieht die Truppe, die da marschiert, wirklich wie eine „Cucaracha“, wie eine Kolonne Zapatas aus den Zeiten der mexikanischen Revolution aus. Doch statt Gewehren tragen die Menschen weiße Fahnen. Auch der Tzotzil- Indianer, der nach anderthalb Stunden Marsch das erste Opfer der Journalisten wird, hat eine weiße Fahne auf seine Lehmhütte gepflanzt, nachdem eine Bombe nur wenige Meter entfernt eingeschlagen ist. Zuerst kamen die Zapatisten, dann die Soldaten und nun die hier. „Es gibt gute und schlechte Leute“, entschuldigt er seine Unlust, Auskunft zu geben. Wer die Guten und wer die Schlechten sind, sagt er vorsichtshalber nicht. „Wir gehören alle zu den Guten“, sagt der Menschenrechtler mit der weißen Binde am Arm, während die unverfrorensten Journalisten die Plastikplanen lüften, die hier das Fensterglas ersetzen, um den Innenraum zu fotografieren – so als ob es ein Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung für Indianer nicht gäbe.

Schließlich gibt der Tzotzil seine Geschichte preis: Die Soldaten sind gekommen und haben ihn eine Nacht lang gefesselt. Seinen Sohn Roberto haben sie fürchterlich geschlagen, auf die Ladefläche eines Lastwagens geworfen und sind anschließend weggefahren. Seither hat er von ihm nichts mehr gehört. All das habe sich am Mittwoch ereignet. Nein, seinen Namen wolle er nicht nennen, sagt der Mann und starrt auf die gezückten Griffel. „Wir müssen doch Ihren Namen wissen, wenn wir Ihren Sohn ausfindig machen wollen, um ihn Ihnen zurückzubringen.“ Das sieht der Mann letztlich ein und diktiert: „Manuel Sanchez“. Alle schreiben mit. Der Mann ist erledigt. Die Karawane zieht weiter.

In San Antonio de los Baños, einem kleinen Weiler vor der Siedlung Corralitos, sind nur ein halbes Dutzend Frauen zurückgeblieben. Sie tragen die traditionelle tiefblaue Tracht der Tzotzilen, ihr pechschwarzes Haar ist zu zwei Zöpfen geknüpft. Ob Bomben gefallen seien? „Uiih, viele, viele.“ Eine kramt sogar ein respektables Stück Metall hervor, das offenbar vom Mantel einer Bombe stammt. Nein, Soldaten hätten sie nicht gesehen, die seien hier nicht vorbeigekommen. Aber wir sollten ihre Verwandten in Corralitos fragen, die wüßten mehr, dort sei so vieles passiert, schlagen die im übrigen durchaus gesprächigen Frauen vor und sind gern bereit, sich in den Zug einzureihen.

Auf dem Weg nach Corralitos künden Patronenhülsen und zerfetzte Uniformstücke vom Geschehenen. Und schließlich stehen wir weit oben in den Bergen vor dem Dorf, das seltsamerweise als bombardiertes Elendsviertel von San Cristóbal durch die Weltpresse ging. Doch niemand, der etwas erzählen könnte. Nur streunende Hunde, umherirrende Hühner und einige frei laufende Pferde. Die Häuser, einfache Holzverschläge, die weit verstreut in einer Mulde liegen, sind leer. An den Türen hängen Schlösser, als ob die Flüchtlinge die Ankuft von Journalisten gewittert hätten. Vergeblich schreien die Tzotzilen in ihrer Sprache nach den Verwandten. Kein Mensch rührt sich. Die meisten sind schon am Vortag in die Stadt geflohen, die wenigen, die zunächst zurückblieben, sind spurlos verschwunden. „Sie sind in die Berge gegangen“, heißt es immer wieder, das heißt, noch weiter hoch in die vernebelten Wälder gestiegen. Vielleicht haben sie sich versprengten Trupps der Guerilla angeschlossen. Vielleicht halten sie sich vorerst einfach nur versteckt. Der Troß hat auch Lebensmittel, Öl, Mais und Bohnen, mitgebracht, die er nun statt den Bewohnern von Corralitos eben den Frauen in San Antonio aushändigt. Die zehn Ärzte, die den Konvoi begleitet haben, kommen hingegen nicht zum Einsatz.

Auch den Rückweg in die Stadt tritt die Karawane geordnet an. Vorneweg das große grüne Transparent, das auffordert, die Menschenrechte zu beachten. Doch die Heimkehrer stoßen auf keinen Soldaten, keine Kontrolle, keine Blockade. Die Informationssperre wurde also durchbrochen. Es wird auf der anschließenden Pressekonferenz als Sieg verbucht werden. Weitere Siege dieser Art wird die Armee den Menschenrechtlern und Journalisten wohl schon bald schenken. Wenn das Kriegsgeschehen weit genug entfert ist und die Spuren militärischer Auseinandersetzung einigermaßen beseitigt sind, wird man auch wieder nach Ocosingo, Altamirano und Las Margaritas fahren können, in die Orte, die die „Zapatistische Befreiungsarmee“ zu Jahresbeginn kurzzeitig besetzt hatte. Die Leichen sind längst per Hubschrauber ausgeflogen, sie werden von den zuständigen Behörden untersucht, auch wenn es sich – wie bei fünf Toten in Ocosingo – um Guerilleros mit gefesselten Händen und Einschußloch im Nacken handelt. Schon warnen kirchliche Kreise von einem „schmutzigen Krieg“, in dem Gefangene hingerichtet und Personen, die der Subversion verdächtigt werden, verschleppt werden und „verschwinden“. Thomas Schmid,

San Cristóbal de las Casas