Die Leidenschaft der Apothekenkünstlerin

■ Ein Bericht über die außergewöhnliche Sachensucherin Christa Schoon und ihre eigenwillige Schaufenstergalerie

Wer die triste Nordstraße entlanggehen muß, vorbei an den alten Hafenpuffkneipen und heruntergekommenen Resteshops, kommt irgendwann an die kleine Wiking- Apotheke von Frau Koch und wird dort unweigerlich überrascht stehenbleiben: Das Schaufenster scheint ein kleines Museum zu sein.

Überaus sorgfältig ist dort eine Ausstellung aufgebaut, mit vielen merkwürdigen Apparaten, Gläschen und Geräten zur elektrogalvanischen Medizin des letzen Jahrhunderts. Auf vergrößerten Fotos aus alten Büchern sieht man stille Erwachsene und verwunderte Kinder, die solchen Apparaturen angeschlossen sind, und handgeschriebe Zettel erläutern das Verfahren. Irgendjemand muß sein Leben lang gesucht und gesammelt haben, um die vielen großen und kleinen Exponate so schön zusammenzubekommen.

Aber auch in den Wochen und Monaten zuvor gab es ähnliche Ausstellungen in der abgelegenen Apotheke: nie gesehene Meerestiere, Insekten und Versteinerungen, so ungewöhnlich und vielfältig, daß man wieder einen leidenschaftlichen Sammler vermuten mußte. Oder Brillen und Linsen von den Anfängen bis zur Gegenwart; die Geschichte der Baumwollverarbeitung, präparierte Spinnen aus aller Welt und dazwischen plötzlich der szenische Puppenaufbau des Märchens vom Froschkönig, welches selbst in altmodisch säuberlicher Schrift auf einer großen Papptafel steht. Und diese Schrift ist dieselbe wie die auf den naturwissenschaftlichen Erklärungsschildchen. Sollte das alles seit Jahr und Tag von derselben Person gemacht worden sein? Es schein unmöglich, aber es ist so.

Christa Schoon, zierlich, schwarzhaarig und höchst lebhaft, stellt diese Ausstellungen her. Sie hat Material für 64 verschiedene Themen, und die Mäuse und Ratten für Thema Nummer 65: „Nagetiere“, lagern schon in ihrem häuslichen Kühlschrank. Fünfzehnmal ist Familie Schoon bereits umgezogen, weil die Wohnungen immer wieder zu klein wurden für die Sammlungen der außergewöhnlichen Sachensucherin – und weil sich Nachbarn über die Dünste der Fischtrocknungsarbeiten, diesem „stinkenden Gewerbe“, beschwerten.

Bevor Christa Schoon nämlich begann, mit Apotheken in ganz Norddeutschland zusammenzuarbeiten, stellte sie Präparate für die biologischen Sammlungen von Schulen her. Zwei uralte Männer in Berlin und auf der Insel Föhr sind außer ihr selbst die einzigen, die empfindliche Seeanemonen und Seesterne so behandeln können, daß sie nicht schon nach einem Jahr von Milben befallen werden. Sie fährt immer noch mit einem Fischer auf die Ostsee raus, um unter den Fängen fündig zu werden und besucht Miesmuschelbänke wegen der Einsiedlerkrebse, Seeigel und Meeresspinnen.

Die vier Kinder der Familie Schoon mußten sich schon früh daran gewöhnen, daß sie ihren Weg in die Betten kaum finden konnten, weil auf Ausstopfung wartende, aufgeschlitzte Tierkörper den Weg versperrten, ebenso wie Knochen, Riesenhirschgeweih, Muschelsammlungen und kistenweise Material für Weihnachtsausstellungen, Bäckereien, Miniwerkstätten. Und wenn sie dann doch endlich im Bett lagen, krabbelte dort garantiert das eine oder andere Insekt herum. Wochenlang blieb auch die Badewanne blockiert, wenn sich dort Frösche vom Kaulquappenstadium bis zum fertigen Frosch entwickeln sollten.

„Ich habe kaum Freunde“, sagt die 19jährige Tochter Wheena. „Vor irgendetwas haben sie immer einen Ekel. Sie kommen einmal zu uns und dann nie wieder.“ Das erfüllt Wheena aber mit einem durchaus spürbaren Stolz, wie auch Christa Schoon gern erzählt, daß sie bei ihren gutbürgerlichen Eltern als „schreckliches Kind“ gegolten habe, weil sie nicht davon abzubringen war, am Kanal herumzustreunen und klitschenasse Frösche und Krebse in der Hosentasche mit nach Hause zu bringen. Stundenlang strich sie damals im Wald umher, um tote Tiere und andere Fundstücke der glitschigen, schmierigen und stinkigen Art herbeizuschleppen.

Die rein naturwissenschaftliche Themenausrichtung ist nun schon lange aufgesprengt. Jeden Sonntag zieht Familie Schoon über den Bremer Bürgerweiden-Flohmarkt. Nussknacker und Weihnachtskrippen, Puppen und Spielzeug, alte Bücher, Kästen, Haushaltsgeräte, Werkzeuge, alles, alles kann für alte und neue Ausstellungen dienlich sein.

Die beinahe blinde Tochter Medy näht auf geheimnisvolle Weise wunderschöne Puppen für die Märchenausstellungen und kürzt die Märchentexte so, daß sie in ihrer ruhigen Schreibschrift auf die Pappschachteln passen. Der Ehemann, Vollstreckungsbeamter beim Zoll, baut abends zur Entspannung Papp- und Holzkulissen. Und Wheena liebt Versteinerungen und will Paläontologin werden. Alle zusammen haben im letzten Jahr eine Apotheke in Achim auf mittelalterlich getrimmt und dortdrei Tage lang in alten Kostümen die Bedienung samt Türsteher gespielt.

Vor kurzem ist die Familie mit Enkel Merlin umgezogen, mitten in den Wald zwischen Rotenburg und Visselhövede, in eine ehemalige Nerzgerberei. Dort ist das allererste Mal genug Platz, um selbst die hundert Kisten mit noch ungeordneten Mineralien unterzubringen. Nur Wheena wohnt in einem Wohnwagen: Der ihr zustehende Dachboden ist noch nicht ausgebaut und beherbergt Massen von Zwergfledermäusen die fürchterlich schreien, Wheenas blondes Haar lieben und sich mit Vorliebe in ihrem Bett verstecken.

„Wie soll ich meinen Beruf nennen?“ sagt Christa Schoon. „Er ist der Mittelpunkt unserer Familie. Er macht, daß ich nie Feierabend habe. Und daß unsere Nachbarn uns für verrückt halten. Ich liebe ihn, aber er hat keinen Namen. Eine Berufung.“ Und dieses letzte sagen Wheena und Christa wie aus einem Munde. Cornelia Kurth