„Die Siedler sind wie stechende Dornen“

Unter den Bewohnern der künftigen palästinensischen „Hauptstadt“ herrscht Ernüchterung  ■ Aus Jericho Julia Albrecht

„Ich bin ein Jude. Ich bin ein Israeli. Ich werde hierbleiben.“ Avi ist einer der Urväter der Siedlung „Weret Jericho“ (Rose von Jericho). Zwei Jahre nach dem Sechs- Tage-Krieg im Jahr 1967, in dem die Israelis die damals zu Jordanien gehörende Westbank besetzten, ließ er sich dort nieder. Heute besteht die Siedlung aus 50 Familien mit insgesamt 150 Personen. „Ich werde nicht gehen. Nicht für Geld und nicht durch Gewalt. Wenn man mich von hier entfernen will, dann nur als Leiche.“ Avi steht in dem Imbiß am Ortseingang von Jericho. Hier stellt er sein Auto ab, wenn er in den Ort geht, um Einkäufe zu machen, und hier unterhält er sich ein wenig mit seinen „Nachbarn“, den Palästinensern, auf hebräisch und arabisch.

Für das WDR- Team, das zwei Tage in Jericho gedreht hat, symbolisieren die israelischen Siedler und die palästinensischen Flüchtlingslager in unmittelbarer Nähe, die leeren Läden und der Unmut der Leute die dunklen Seiten des „Gaza-Jericho-Abkommens“ zwischen der israelischen Regierung und der PLO-Führung. Sie wurden in der Nacht aufgenommen. Das Konzept ist einfach. Nachts die schweren, die leidvollen Bilder. In der Morgendämmerung dann die hoffnungsvolleren Sequenzen. Imad Barahma, Besitzer des Spielzeuggeschäfts „Look Mama Look“, belächelt die Fernsehleute. „Besser, sie drehten erst die hellen und dann die dunklen Bilder.“ Am Anfang, unmittelbar nach dem Handschlag zwischen dem israelischen Ministerpräsidenten Jitzhak Rabin und PLO- Chef Jassir Arafat am 13. September in Washington, sei man in Jericho noch froh und hoffnungsvoll gewesen. Jetzt sei davon aber nichts mehr zu spüren. „Für uns gibt es keine Veränderungen“, sagt Imad. Nach der Unterzeichnung des Gaza-Jericho-Abkommens hätte es einen Festzug durch den Ort gegeben. PLO-Fähnchen und Arafat-Bilder wurden durch die Straßen getragen. Obwohl die Demonstranten keine Steine geworfen hätten, habe die israelische Polizei eingegriffen. „Die Polizisten nahmen den Demonstranten alles weg, die Bilder und die Fahnen. Dabei gingen sie auf die Straße, um ihre Freude zu zeigen.“

Imads „Look Mama Look“ ist eine wundersame rosa-weiß-hellgrüne Mischung aus Barbiepuppe und Maschinengewehr, Legosteinen, Ohrgehängen und PLO-Anstecknadeln. „Look Mama Look“ liegt an dem Platz von Jericho. Nebenan befindet sich die israelische Polizeistation, in die demnächst die palästinensische Polizei einziehen will. Gegenüber von Imads Geschäft residiert der Bürgermeister, der von den Israelis auf den Posten gehoben wurde. „Er hat den Leuten hier das Blut ausgesaugt“, sagt Imad. „Läge Jericho mitten in der Westbank, wäre er schon lange umgebracht worden.“

Den Rest des Platzes bestimmen kleine Imbißbuden, Lebensmittelgeschäfte und jede Menge Obstverkäufer. Tourismus gibt es schon lange nicht mehr. Seit im Dezember 1987 die Intifada begann, der Aufstand der Palästinenser in den besetzten Gebieten, fahren die Touristenbusse an der Stadt vorbei und halten erst drei Kilometer weiter. Dort liegen die Ruinen des antiken Jericho. Dabei war Jericho in den letzten sechs Jahren außergewöhnlich ruhig. „Jericho ist eine tote Stadt“, sagt Imad und meint das sowohl bezogen auf heute als auch auf die Jahre der Intifada.

Jericho, diese Winzigkeit einer Ortschaft, dieses Nichts an Infrastruktur, wird künftig eine Doppelfunktion haben. Hier soll der Hauptsitz der PLO sein, und hier soll es eine kommunale palästinensische Selbstverwaltung geben. „Damit sich die Palästinenser in der Westbank und im Gaza-Streifen nach demokratischen Prinzipien selbst regieren können, werden direkte, freie und allgemeine politische Wahlen zum Rat abgehalten werden, unter vereinbarter Beaufsichtigung und internationaler Überwachung. Die palästinensische Polizei wird die öffentliche Ordnung sichern“, heißt es im ersten Absatz von Artikel III der in Washington unterzeichneten Prinzipienerklärung.

„Was verstehen wir von Demokratie?“ fragt Adnan Hamid, Jericho-Chef der „Demokratischen Palästinensischen Union“ (Fida), einer Abspaltung der „Demokratischen Front zur Befreiung Palästinas“ (DFLP), in deren Parteiprogramm das Wort „Demokratie“ der am häufigsten gebrauchte Ausdruck ist. „Nichts“, ist seine Antwort. Das vermeintliche Vorbild Israel habe sich gerade in den besetzten Gebieten nicht bewährt. Besatzung und Demokratie schließen sich aus. Dann gäbe es noch die geographische und historische Nähe der Westbank zu Jordanien. „Wir wollen die PLO hier“, sagt Adnan, „aber nicht in der Art, wie ihre Funktionäre draußen agieren. Wir wollen kein Militär, wir wollen ein ziviles Recht.“ Als Arafat vor zwei Monaten versuchte, einen hochrangigen PLO-Funktionär aus Ramallah an die Spitze der Organisation in Jericho zu setzen, hat man sich erfolgreich dagegen gewehrt.

„Israel wird vom Gaza-Streifen und aus dem Jericho-Gebiet abziehen“, heißt es in dem Abkommen. Doch der 13. Dezember als Stichtag für einen Abzugsbeginn verstrich, ohne daß ein israelischer Soldat verschwand. Statt dessen wurde zu dem vorgesehenen Festtag die Militärpräsenz in der Stadt erhöht. Seitdem verhandeln Israelis und Palästinenser in zähen Gesprächen an wechselnden Orten über die Details des Abkommens. Wie groß wird das teilautonome Gebiet um Jericho? Wer wird mit welchen Vollmachten die Grenzen nach Jordanien und Ägypten kontrollieren? Und, vor allem, wann wird das israelische Militär abziehen? So lauten die wichtigsten Fragen, die diese Woche wieder einmal an Verhandlungstischen im ägyptischen Taba beantwortet werden sollen.

„Auf einmal sieht man israelische Grenzsoldaten durch Jericho fahren. Das gab es nicht einmal während der Intifada“, sagt Imad. „Die Leute wollen jetzt Zeichen sehen.“ Einstweilen muß die Symbolkraft von palästinensischen Fahnen und Plakaten mit dem Kopf des PLO-Vorsitzenden die ausbleibenden politischen Veränderungen kompensieren. In beinahe jedem Geschäft in Jericho gibt es Fähnchen zu kaufen. Arafats Portrait ist in jedem Imbiß und als Reklame an den Geschäften zu sehen. Er hängt über dem Schreibtisch des Bürgermeisters und dient als Schmuck bei einer ansonsten traditionellen Hochzeitsfeier.

Es gibt keine Kaufhäuser in Jericho und keinen Bahnhof, es gibt keine Supermärkte und nur eine Bank. Zyniker behaupten, Arafat werde nicht Präsident Palästinas, sondern Bürgermeister von Jericho. In der Tat ist kaum vorstellbar, daß die PLO-Spitze hier auf Dauer ihren Sitz haben wird. Wieso also Jericho? Der Bürgermeister spekuliert: „Weil Jericho in absoluter Nähe zur Grenze ist.“ Theoretisch können die Palästinenser von hier in wenigen Minuten nach Jordanien reisen – wenn sie nur dürfen. Die Israelis haben sich in dem Abkommen vorbehalten, auch weiterhin für die äußere Sicherheit der gesamten besetzten Gebiete verantwortlich zu sein. Dadurch wollen sie verhindern, daß Hunderttausende palästinensischer Flüchtlinge zurückkehren.

Gäbe es nicht die Bilder und Fahnen, wäre von einem „weltgeschichtlichen Ereignis“ nichts zu spüren. Oder vielleicht doch? Kleine Ereignisse und Bemerkungen zeigen, daß die bis vor wenigen Monaten geltenden Regeln zwischen israelischen Besatzern und Palästinensern nicht mehr gelten. Da war das israelische Fernsehteam, das unmittelbar nach der Unterzeichnung des Gaza-Jericho- Abkommens seine Wagen im Halteverbot vor der Polizeistation parkte. Auf die Drohungen der israelischen Polizei antworteten sie: „Ihr habt hier überhaupt nichts mehr zu sagen!“ Oder die israelischen Familien, die sich mit ihren Kindern vereinzelt in der Stadt blicken lassen. „Wir wollen unseren Kindern noch einmal Jericho zeigen“, sagen sie, „weil man vielleicht als Israeli bald nicht mehr hierher darf.“ Oder der Gebrauch des Wortes „Sicherheit“ seitens der Palästinenser. Aus Gründen der „Sicherheit“ will man nicht mitteilen, was der Chef der örtlichen Fatah derzeit in Jordanien macht. Verkehrte Welt: „Sicherheit“ war bisher die Vokabel der Israelis, mit der sie jedwede Willkürtat begründeten. Die stundenlangen Kontrollen am Flughafen, bevor man das Land verlassen darf, finden aus Gründen der „Sicherheit“ statt. Der Zettel, den Journalisten bei der Akkreditierung zu unterschreiben haben, der die Zensur von journalistischen Texten vorsieht, ist Teil der „Sicherheit“. Seit der Unterzeichnung des Abkommens hört man dieses Wort vermehrt auch auf palästinensischer Seite. Dabei sind Sicherheitsfragen für Jericho marginal. Nicht einmal einen Verkehrspolizisten kann man sich hier vorstellen. Jericho hat keine einzige Ampel, und der Verkehr auf dem Platz wird im Kreis abgewickelt.

„Die Siedler sind wie stechende Dornen“, sagt Harb, Imam in der Moschee und eine der angesehensten Persönlichkeiten in Jericho. „Obwohl wir mit einzelnen gut auskommen, akzeptieren wir nicht, daß sie in Palästina bleiben.“ Auch wenn die israelischen Siedlungen Jericho nicht wie ein Belagerungsring umstellen, empfindet die palästinensische Bevölkerung sie als untragbar. Wie mittelalterliche Burgen thronen sie auf den höchsten Bergen und binden – aus Gründen der Sicherheit – einen Großteil des israelischen Militärs.

„Dies ist unser Land“, lautet der Satz, auf denen sich die Israelis bei der Besiedlung der palästinensischen Gebiete geeinigt haben, und „dies ist unser Land“, skandierten auch die orthodoxen Juden, die unmittelar nach der Unterzeichnung des Gaza-Jericho-Abkommens die alte Synagoge am Rande Jerichos besetzt und darauf eine Jeschiva, eine höhere Religionsschule, gebaut haben. „Nach der Vertreibung der Juden aus Ägypten“, so die Begründung der Gläubigen, sei Jericho die erste Stadt gewesen, von der ausgehend „die Kinder Israels das ganze Gelobte Land besiedelt haben“. Die Botschaft ist nur allzu deutlich. Während in anderen Städten der Westbank bewaffnete Siedler versuchen, das Abkommen mit dem Gewehr zu verhindern, demonstrieren die Religiösen auf ihre Weise, wem ihrer Ansicht nach dieses Land gehört.