„Gibt es andere Möglichkeiten?“

Mexikos Gesellschaft reagiert auf die Revolte in Chiapas: die Unternehmer mit Angst, die intellektuellen Schriftsteller völlig gespalten und das Parlament überhaupt nicht  ■ Aus Mexiko-Stadt Anne Hufschmid

Die mexikanische Gesellschaft reagiert fassungslos auf die Ereignisse in Chiapas. So resümiert Elena Poniatowska, erfahrene Chronistin sozialer Bewegungen in Mexiko, in einem Zeitungsessay: „Da lebt man so vor sich hin in seiner Routine, und plötzlich scheint nichts mehr noch Sinn zu machen, nicht einmal das Schreiben. Das einzige Leben, das in diesen Momenten von Bedeutung ist, ist das Leben derjenigen, die im Begriff sind, es zu verlieren: die Indianer und Bauern aus Los Altos, dem Hochland von Chiapas.“

Es ist durchaus zu bezweifeln, ob das mexikanische Parlament sich aus den gleichen Gründen in Schweigen hüllt: Die Fraktionen haben bisher weder eine gemeinsame Erklärung – die über ein unbestimmtes „Bedauern“ hinausginge – geschweige denn eine gemeinsame Aktion zustande gebracht. Die vor Tagen angekündigte überparteiliche Kommission ist bis heute nicht eingesetzt. Weder Präsident Salinas noch sein möglicher Nachfolger, der PRI- Präsidentschaftskandidat Luis Donaldo Colosio, haben sich bisher vor Ort blicken lassen.

Kalte Füße bekommen inzwischen die Unternehmerverbände des Landes: In ersten Stellungnahmen warnen sie eindringlich davor, auf ein „rein politisches Problem“ – das keinesfalls mit dem erst wenige Jahre jungen neoliberalen Wirtschaftskurs zu erklären sei – „ökonomische Antworten“ geben zu wollen. In ihrem verzweifelten Bemühen, einen möglichen sozio- ökonomischen Kurswechsel der Salinas-Regierung abzuwenden, legt die Unternehmerelite ein erstaunlich historisches Bewußtsein an den Tag: Die Armut der Region sei schließlich nicht erst in den letzten fünf Jahren entstanden, sondern jahrhundertealt.

Mit Spannung waren die Kommentare der beiden Schriftsteller Octavio Paz und Carlos Fuentes erwartet worden, der beiden intellektuellen Koryphäen Mexikos schlechthin. Deren Bewertungen hätten unterschiedlicher kaum ausfallen können.

Literaturnobelpreisträger Paz – dessen Name bisher unter keinem der zahlreichen Aufrufe von Künstlern und Literaten gegen die Bombardements in Chiapas steht – sorgt sich vor allem der „Intervention extremistischer Gruppen“ wegen, deren Wurzeln er, in fast wörtlicher Übereinstimmung mit der Regierungsmeinung, „im Maoismus, der Befreiungstheologie, Sendero Luminoso und den revolutionären Bewegungen Zentralamerikas“ sieht. Diese „unverantwortlichen Demagogen“ hätten die indianischen Dorfgemeinschaften „betrogen“ und so dazu beigetragen, „das internationale Ansehen Mexikos zu schädigen“. Zuversichtlich äußert der Dichter die Überzeugung, daß „die Armee die Ordnung in der Region bald wiederherstellen kann“.

Für Carlos Fuentes hingegen ist der Schaden, den das internationale Image Mexikos in diesen Tagen erleidet, „weniger wichtig“ angesichts „des Leidens von Millionen Mexikanern ohne Dach über dem Kopf, ohne Land und ohne Trinkwasser“. „Der chiapanekische Aufruhr“, so Carlos Fuentes in einem Zeitungsessay, „wird zumindest den Vorteil gehabt haben, Mexiko aus seiner Selbstgefälligkeit und erstweltlerischen Selbstbeglückwünschung aufzuwecken.“ Mitverantwortlich für den Gewaltausbruch im „mexikanischen Mezzogiorno“ sei das „antidemokratische und ungerechte politische und ökonomische System Mexikos“. Und dieses System hat heute politisch Verantwortliche: Konkret fordert der Schriftsteller sowohl den Gouverneur Elmar Seltzer wie auch den amtierenden Innenminister Patrocinio Gonzalez Garrido zum Rücktritt auf, da beide sich sowohl in der historischen wie aktuellen Krise „als unfähig erwiesen“ hätten.

Die Aufständischen begreift Fuentes als Herausforderung an die Gesellschaft: „Ihre Verzweiflung ist verständlich, ihre Methoden nicht. Ob es andere gibt? Sie behaupten nein. Es liegt in unser aller Verantwortung, in der von Regierung und von uns Bürgern, ihnen zu zeigen, daß es sie doch gibt.“