Der Teufel leistet Widerstand

Geteilte Prognosen für Japans Wirtschaftsjahr / Arbeitslosigkeit erstmals großes Thema / Immer mehr Produktionsverlagerung ins Ausland  ■ Aus Tokio Georg Blume

Was war los am „Daihakkai“, dem ersten Börsentag im neuen Jahr? Noch in den schlechtesten Jahren stiegen am Daihakkai in Tokio die Kurse, denn für gewöhnlich kennt der Optimismus der Japaner zu Neujahr keine Grenzen. Alle Mühen des alten Jahres sind in diesen Tagen vergessen, die Teufel wurden mit 108 Glockenschlägen in der Silvesternacht vertrieben – so lehrt es die buddhistische Tradition. Sollten die Prognosen für das japanische Wirtschaftsjahr davon nicht auch 1994 profitieren?

„Im Sommer wird es uns wieder besser gehen. Wir werden neue Produktionsmethoden erfinden und haben den Enthusiasmus für unsere Arbeit nicht verloren“, stimmte Shoichiro Toyoda, Chef bei dem größten japanischen Automobilhersteller Toyota die Neujahrsgesänge der Konzernherren an. Jedoch: Nicht in jedem Jahr läßt sich der Toyotismus neu erfinden.

In Wirklichkeit erwarten Japans Autobauer im neuen Jahr weitere Produktionsrückgänge und einen umfangreichen Stellenabbau. Nur eine geplante Einkommensteuersenkung der Regierung verspricht der Autobranche Entlastung: „Wir hoffen, die Effekte der Regierungsmaßnahmen in der zweiten Jahreshälfte zu spüren, wenn die Autobesitzer ihre alten Wagen gegen neue eintauschen“, dämpft Tatsuro Toyoda, zweiter Herr im Hause Toyota, die Erwartungen, die sein Bruder dem Neujahrsbrauch entsprechend nährte.

Nicht besser sind die Aussichten für Japans zweite Paradebranche, die Unterhaltungselektronik. Die Produktion von Hi-Fi-, Fernseh- und Videogeräten ging in Japan 1993 um 12,7 Prozent zurück. Bereits im Vorjahr hatte man einen zweistelligen Produktionsrückgang verzeichnet. Das konnte zwar der weltweiten Führungsposition der großen japanischen Konzerne wie Sony oder Matsushita nichts anhaben. Doch immer weniger Geräte dieser Firmen tragen heute noch das Markenzeichen „Made in Japan“.

Zum ersten Mal wurden in Japan im letzten Jahr mehr Fernseher im- als exportiert – wenngleich die Import-TVs fast alle aus japanischen Fabriken in Südostasien stammten. Das aber ändert nichts an den kurzfristigen Folgen für die japanische Wirtschaftslage. Da es in fast allen traditionellen Erfolgssektoren der japanischen Güterherstellung, vom Auto bis zum Walkman, an neuen Produktideen fehlt, die Märkte in den anderen Industrieländern gesättigt sind und damit die Hochstufung der Produktion in Japan ausfällt, zieht die Abwanderung der Fabriken ins billigere Restasien direkte Arbeitslosigkeit in Japan nach sich.

Zum erstenmal seit der Ölkrise der siebziger Jahre und einem kurzen Konjunktureinbruch Mitte der achtziger ist in Japan von Arbeitslosigkeit überhaupt wieder die Rede. Ende Dezember meldete die Regierung mit einer Arbeitslosenquote von 2,8 Prozent den Höchststand innerhalb der letzten sechs Jahre. Paul Summerland, Chefökonom beim Wertpapierhaus Lehman Brothers in Tokio, rechnet bereits in den nächsten drei Jahren mit der Verdoppelung der Arbeitslosenzahl vor allem aufgrund großer Überkapazitäten in den Betrieben und einer geschätzen innerbetrieblichen Arbeitslosigkeit von durchschnittlich sechs Prozent in den Großkonzernen. Tatsächlich muß sich Japan erst heute mit den sozialen Folgen beschäftigen, die die im Westen längst vollzogene Umstellung von einer Hochwachstumswirtschaft auf anhaltendes Niedrigwachstum mit sich bringt.

Derzeit entdecken viele Japaner in ihren Lokalpostillen zum erstenmal die Adresse ihres nächstgelegenden Arbeitsamtes. Seitdem die bis vor kurzem noch wöchentlich mit bis zu fünfhundert Seiten erscheinenden Stellenanzeigen-Blätter nur noch Dünn- Nummern drucken, finden Ausschreibungen im Arbeitsamt bisher unbekannten Zulauf.

So wird schon 1994 mehr denn je auf die Probe gestellt, was den japanischen Kapitalismus angeblich vom westlichen unterscheidet. Die Lebensarbeitszeitgarantie war in Japan bisher ein ungeschriebenes soziales Gesetz, das allein den geringen Aufwand der staatlichen Arbeitslosen- und Sozialfürsorge zu rechtfertigen vermochte. Doch wird die Moral der Unternehmen auch durch die verschärfte Kostenkrise halten?

Von den einfachen Markteroberungsstrategien der Vergangenheit müssen Japans Konzerne heute auf die Rentabilisierung der bestehenden Produktion umschalten. An Lohnkostensenkungen geht dabei kein Weg vorbei. Noch verfahren dabei viele Unternehmen nach dem Motto: Besser alle verdienen weniger als einige überhaupt nichts mehr. So wurden 1993 vor allem die Gehälter der oberen Manager gekürzt, während jetzt 1994 eine Nullrunde bei den Tarifverhandlungen folgen soll. Das machte Entlassungen bisher noch überflüssig.

Gleichwohl belegen sinkende Verbraucherausgaben und steigende Sparquoten, daß sich auch die Japaner inzwischen um ihren sicheren Arbeitsplatz sorgen.

Doch auch wenn der soziale Konsens hält, ist deshalb eine wirtschaftliche Wende noch nicht in Sicht. Auf schwache 0,5 Prozent berechnet die OECD die japanischen Wachstumsaussichten für 1994.

Bei den privaten Wirtschaftsinstituten in Tokio reichen die Prognosen für das japanische Geschäftsjahr von April 1994 bis März 1995 von 1,4 Prozent Wachstum bis 0,4 Prozent Minuswachstum.

Dabei starren die Wirtschaftsexperten auf eine aus ihrer Sicht hilflose Regierung, die zwar allerlei Konjunkturmaßnahmen in Aussicht gestellt hat, jedoch durch den inneren Koalitionszwist über weitreichende politische Reformgesetze in der Wirtschaftspolitik wie gelähmt erscheint. Dennoch fallen die großen Entscheidungen für Japan 1994 nicht in der Wirtschaft, sondern in der Politik: Nur sie kann die Märkte des Landes mit dem Willen zur Deregulierung weiter öffnen, nur sie kann damit gleichzeitig die verkrusteten Machtstrukturen innerhalb der verbrüderten Konzern- und Beamtenapparate aufbrechen.

Der Regierungswechsel hat im letzten Jahr eine neue reformorientierte Generation an die Macht in Tokio gebracht. Ihr Erfolg entscheidet 1994 über weit mehr als die Wirtschaftsaussichten eines Jahres.