Wehner, der Verräter?

Die „Niederschrift“ Wehners für den NKWD gefunden  ■ Von Christian Semler

Berlin (taz) – Rund ein halbes Jahr nach Reinhard Müllers Aktenpublikation zum „Fall Wehner“ sind wir ein weiteres Mal mit dem Schrecken konfrontiert. Der Spiegel veröffentlichte in seiner jüngsten Ausgabe die „Niederschrift“, die Wehner anläßlich seines zweiten Verhörs durch den sowjetischen Sicherheitsdienst NKWD 1937 angefertigt hatte. Wehner, der große Verräter?

Die Jahre des großen Terrors 1936 bis 1939 in der Sowjetunion sind von den Erfahrungen unserer eigenen Lebenspraxis so äonenweit getrennt, daß keine Quellenpublikation, keine noch so eindringliche Biographie uns das Handeln der damaligen Protagonisten wirklich verständlich machen kann. Angesichts des Exzesses der Selbsterniedrigung und des hemmungslosen Verrats selbst an nächsten Freunden und Verwandten, von dem fast alle jetzt zu Tage gekommenen Dokumente über die deutschen kommunistischen Kader im Exil zeugen, liegen zwei gleichermaßen gefährliche Reaktionsformen nahe: Zynismus und/ oder moralische Selbstüberschätzung. Wenn es darüber hinaus gelingt, eine Statue vom Sockel zu stürzen, können diese allzu billigen Emotionen auch noch mit kritisch- aufklärerischen Gestus vorgebracht werden. Genau dies aber betreibt der Spiegel in triumphalistischem Ton. Dem Leser bleibt eigentlich nur der eine Stoßseufzer: Herr, ich danke dir, daß ich nicht so bin wie jener. Es gehört zu den eingespielten Techniken nicht nur der realsozialistischen Geheimdienste, abtrünnige Mitarbeiter durch Dokumente zu erpressen, die just ebendiese Mitarbeit bezeugen, oder sie wenigstens, falls Erpressung nicht verfängt, durch Veröffentlichung „des Materials“ zu erledigen. Genau dies hatte die Stasi 1967 im Sinn, als sie den KGB, die Nachfolgeorganisation des NKWD, um die Überlassung belastenden Materials zum „Fall Wehner“ bat. Prompt wurde die „Niederschrift“ aus dem Jahr 1937 überstellt. Angeblich hatten Äußerungen Wehners, die stalinistische und die nazistische Terrorherrschaft gleichsetzten, den Zorn von Walter Ulbricht persönlich erregt. Diese Version ist alles andere als wahrscheinlich. Denn Wehner, der damals in der Großen Koalition Minister für gesamtdeutsche Fragen war, stand mit Brandt und Bahr für die Linie schrittweiser Entspannung, an deren Ende vielleicht sogar die völkerrechtliche Anerkennung der DDR stehen konnte. Dies war auch Boris Ponomarjow, dem Leiter der internationalen Abteilung des ZK der sowjetischen Partei, nicht verborgen gebieben. Er riet von einer Veröffentlichung ab, und die übereifrigen Stasiauswerter legten die Akte auf Eis. So geschah es, daß Wehners Niederschrift nach dem Ableben der DDR in den Archiven der Gauck- Behörde landete und jetzt ans Licht kam. Müller hatte es in seiner akribischen Dokumentation noch bedauert, keinen Zugang zu den sowjetischen Geheimdienstakten gehabt zu haben. Dieses Bedauern war verständlich, denn der sowjetische Geheimdienst bewahrte bis in die Tage Gorbatschows jeden Schnipsel Papier auf, der jemals Eingang in eines seiner Dossiers gefunden hatte. Aus diesem Fundus waren in den 30er Jahren des Terrors die Anklageschriften zusammengesetzt worden. Die Kaderakten der KPD, die über die entsprechende Sektion der Kommunistischen Internationale an den NKWD gelangten, waren wertvolle Teilchen, die im Bedarfsfall zum Puzzle der Anklage zusammengesetzt werden konnten. Niemals aber hatte die KPD oder einer ihrer führenden Funktionäre die Macht, von sich aus die Verfolgungsmaschine in Gang zu setzen. Das entlastet die Kader nicht, die sich so bereitwillig gegenseitig denunzierten, aber es relativiert die Bedeutung ihrer Aussagen. Im Fall Wehners wäre es dem NKWD zum Beispiel ein leichtes gewesen, aus den ungeklärten Einzelheiten der Verhaftung des KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann eine Verschwörung zu destillieren, der ausnahmslos alle Organisationskader der Zentrale zum Opfer gefallen wären.

Dies wäre um so leichter zu bewerkstelligen gewesen, als sich verschiedene Kadergruppen aus dem Umkreis Enrst Thälmanns, darunter auch Wehner, gegenseitig beschuldigten, „Teddy“ an die Gestapo ausgeliefert zu haben. Aber der NKWD war an einem solchen Prozeß uninteressiert, und das rettete Herbert Wehner das Leben. Statt dessen erwartete der NKWD von ihm Informationen über die Wühlarbeit der Trotzkisten und anderer „Konterrevolutionäre“. Der Geheimdienst folgte damit der Direktive Stalins, Verschwörungen zu konstruieren, die führende Altbolschewiken im Verein mit der Gestapo beziehungsweise westlichen Geheimdiensten ausgeheckt haben sollten. So gut er konnte, lieferte Wehner in seiner Niederschrift Informationen, die in das Schema „paßten“.

Es wäre verfehlt, Wehner bei seiner „Niederschrift“ zu unterstellen, er habe mit Hilfe subtiler Taktiken Genossen schützen wollen und nur die preisgegeben, die sowieso schon verloren waren. Obwohl sie im Einzelfall von der Unschuld verhafteter KPD-Funktionäre überzeugt waren, glaubten die kommunistischen Kader in- und außerhalb der Sowjetunion an eine „objektiv“ bestehende Komplizenschaft zwischen den Faschisten und den ehemaligen bolschwewistischen Führern. Viel Brauchbares hat sich, die nachfolgende „Auswertung“ beweist es, für den NKWD aus den Aussagen Wehners allerdings nicht ergeben.

Wie eigentlich nicht anders zu erwarten, hat Wehner nach seinem Bruch mit den Kommunisten in seinen für den internen Gebrauch der SPD bestimmten „Notizen“ aus dem Jahr 1946 das Verhör durch den NKWD und seine Niederschrift falsch wiedergegeben. Wo er in den „Notizen“ das Ansinnen des NKWD, Freunde und Genossen zu bespitzeln, entrüstet zurückwies, hat er in Wirklichkeit sogar von sich aus Angebote gemacht. Wie schon aus den „Kaderakten“ ersichtlich, hat er in einigen Fällen dazu beigetragen, bis dato noch unverdächtige Genossen in die Schußlinie des Geheimdienstes zu bringen. Er handelte aus Todesangst und aus Überzeugung, denn er glaubte tatsächlich, der Apparat könne sich vermittels Säuberungen regenieren.

So schrecklich die Lektüre dieses neuen Dokuments auch ist – eines kann man bei seiner Beurteilung Wehner nicht vorwerfen: Daß er an seine späteren SPD-Genossen moralische Maßstäbe angelegt hätte, denen er in seinem „früheren“ Leben nicht genügte.