Scheinmanöverkritik im Brüsseler Bunker

Gleich zu Beginn des Nato-Gipfels in Brüssel wurde klar, daß die lautstark geführte innerwestliche Debatte um eine Aufnahme osteuropäischer Staaten in die Allianz nur eine Scheindebatte war: Die vom US-Präsidenten lancierte „Partner- schaft für den Frieden“ wurde, wenn auch ohne konkreten Zeitplan, angenommen.

Das Schlußkommuniqué, mit dessen Veröffentlichung die Brüsseler Gipfelshow heute nachmittag zu Ende gehen wird, hatten die Botschafter der 16 Bündnispartner schon am späten Sonntag abend fertiggestellt – lange bevor ihre Regierungschefs gestern morgen zu ihrer ersten Sitzung im streng bewachten Nato-Bunker eintrafen. „So schnell ging es noch nie in der Geschichte der Allianz“, freute sich Generalsekretär Manfred Wörner in seiner Eröffnungsrede. Und signalisierte damit deutlich den Konsens der 16, zugunsten einer Demonstration transatlantischer Einheit konfliktträchtige, aber auf Antwort drängende Fragen lieber auszuklammern und aufzuschieben. „Der Stahl der Allianz ist nicht gerostet“, sekundierte US-Präsident Bill Clinton und sicherte den „dauerhaften Verbleib von 100.000 GIs“ in Westeuropa zu.

Gleich zu Beginn der gestrigen Tagesordnung wurde auch noch einmal deutlich, daß die vor dem Gipfel zum Teil lautstark geführte innerwestliche Kontroverse über eine Nato-Aufnahme osteuropäischer Staaten im wesentlichen eine Scheindebatte war. „Ohne Diskussion und ohne Veränderung“ (Kanzler Kohls Sprecher Dieter Vogel) wurde das von US-Präsident Bill Clinton präsentierte Programm „Partnerschaft für den Frieden“ beschlossen. Über Einzelheiten haben sich die Nato-Regierungen offensichtlich immer noch keine sehr konkreten Gedanken gemacht. Wie es nach diesem Beschluß praktisch weitergeht, an wen genau sich das Programmangebot richtet (Alle KSZE-Staaten? Nur die bis zum Ural?), wann und wie die Nato zur Teilnahme einlädt – auf alle diese Journalistenfragen wußte zumindest Kohls Sprecher gestern keine Antwort.

Bereits am Sonntag abend hatte Clinton zum Auftakt seines ersten Europabesuchs als Präsident in einer Rede vor 250 jungen Leuten aus 30 europäischen Staaten in Brüssels historischem Rathaus noch einmal unmißverständlich deutlich gemacht, daß mit dem „Partnerschaftsprogramm“ die Frage einer Mitgliedschaft der vier mittelosteuropäischen „Reformstaaten“ auf unabsehbare Zeit mit nein beantwortet ist. Dennoch, oder besser gerade deshalb, fanden gestern morgen alle Regierungschefs ausschließlich positive Worte für das Programm.

Die harschen und enttäuschten Reaktionen osteuropäischer Regierungschefs auf die Clinton- Rede hatten die Führer der westlichen Allianz in ihrem Brüsseler Bunker offensichtlich gar nicht erreicht.

Polens Lech Walesa nannte das Partnerschaftsprogramm „Erpressung“. Wenn Polen und Rußland tatsächlich – wie von Clinton behauptet – Partner der Nato seien, müßten sie auch in „gleicher Weise behandelt werden“. Statt dessen lasse sich die Nato durch Rußlands „Veto“ gegen eine Osterweiterung „unter Druck setzen“. Und Walesas tschechischer Amtskollege Vaclav Havel rief die Nato auf, sich „mit mehr Mut und schneller umzuwandeln“.

Obwohl sie sich seit dem Fall der Berliner Mauer ausdrücklich als „politisches Bündis“ versteht, wurde auf diesem dritten Nato- Gipfel über „Partnerschaft“ auf anderem als militärischen Gebiete kaum, und wenn, dann nur in allgemeinen, unverbindlichen Floskeln geredet.

Zwar hatte Bill Clinton am Sonntag abend zu „stärkerer wirtschaftlicher Integration Europas“ aufgerufen und die EU-Staaten zur Öffnung ihrer Märkte für osteuropäische Waren gemahnt. Doch das sei „kein Thema für einen Nato-Gipfel“, ließ der britische Premierminister John Major seinen Sprecher erklären.

Zum Thema, das man unbedingt von diesem Gipfel der „transatlantischen Einheit“ und der „Partnerschaft mit Osteuropa“ hatte fernhalten wollen, wurde allerdings schon am ersten Morgen die Lage in Bosnien. Allerdings wurde auch hier, im Vergleich zu den schlagzeilenträchtigen Ankündigungen einiger Akteure aus der Vorwoche, nur noch mit Wasser gekocht. Von der ausdrücklichen Forderung nach Luftangriffen auf serbische Stellungen um Sarajevo sowie nach Entsendung US-amerikanischer Bodentruppen, mit denen Franzosen und Niederländer nach Informationen aus diplomatischen Kreisen letzte Woche in Washington vorstellig wurden und abblitzten, war jedoch in den Eingangsstatements von Francois Mitterrand und Ruud Lubbers keine Rede mehr. Zwar gab es durch die Bank ein „unverblümtes Eingeständnis, daß der vor einem Jahr erhoffte Erfolg unserer Bemühungen in Bosnien nicht eingetroffen ist“, erklärte Kanzlersprecher Vogel. Doch alle Regierungschefs setzten auf die Fortsetzung des bisherigen Verhandlungskurses.

„Keiner der 16 Regierungschefs hat heute morgen die Ansicht geäußert, daß die Situation, die die Nato im August 1993 zur Voraussetzung militärischer Aktionen gemacht hat, eingetroffen ist“, resümierten britische Regierungsvertreter gestern mittag zufrieden den Diskussionsverlauf. Zugleich wollten sie nicht ausschließen, daß noch während des Gipfels Absprachen stattfinden werden zwischen den Nato-Staaten, die Soldaten in der Unprofor-Truppe in Bosnien stationiert haben (Frankreich, Großbritannien, Kanada, Spanien, Dänemark) über einen Abzug dieser Soldaten nach Ende dieses Winters. Vor fünf Monaten hatte der Nato-Rat die anhaltende „Strangulierung“ der bosnischen Hauptstadt zum Casus belli erklärt.

Ob die seit Wochen herrschende Lage in und um die bosnische Hauptstadt Sarajevo nach Ansicht von Bundeskanzler Helmut Kohl den Tatbestand der „Strangulierung“ erfüllt, wollte dessen Sprecher Vogel lieber nicht beantworten. Auf die Frage, welches Nato-Gremium denn dazu autorisiert sei, die „Strangulierung“ festzustellen, antwortete Vogel: „Der UNO-Sicherheitsrat.“ Während des gestrigen Abendessens wollten die Regierungschefs das Thema Bosnien wieder aufnehmen. Mit konkreten Beschlüssen wurde in Brüssel jedoch nicht gerechnet.

Vorläufig entschärft wurde die zweite „Initiative“ neben dem Programm „Partnerschaft für den Frieden“, das die Clinton-Administration für diesen Gipfel angekündigt hatte. Sie wollten konkrete Beschlüsse der Allianz über Maßnahmen gegen die Proliferation von ABC-Waffen und Raketen herbeiführen, inklusive der Entwicklung von bodengestützten Raketenabwehrsystemen in Westeuropa. Letzteres ging den Westeuropäern zu weit. Die jetzt im Schlußkommuniqué enthaltene Formulierung enthält keinen Verweis mehr auf Raketenabwehrsysteme.

Am Rande des Gipfels wurde zugleich bekannt, daß die gemeinsamen Bemühungen der USA und Rußlands um eine Entnuklearisierung der Ukraine kurz vor einem erfolgreichen Abschluß stehen. Nach diesen Informationen hat sich die ukrainische Regierung bereiterklärt, im Gegenzug zu einer über Washingtons ursprüngliches Angebot hinaus erhöhten Wirtschaftshilfe alle auf ihrem Territorium verbliebenen Atomwaffen der früheren Sowjetunion zu verschrotten beziehungsweise an Rußland zu übergeben. Andreas Zumach, Brüssel