Kein Pomp im Schloß Bellevue

■ Beim traditionellen Neujahrsempfang ehrte Bundespräsident Richard von Weizsäcker BürgerInnen des öffentlichen Lebens / Berliner Sozialdiakon Michael Heinisch, Gisela Höhne und Klaus Erforth geehrt

Auf den roten Teppich wurde im Schloß Bellevue völlig verzichtet. Kein Pomp, kein Prunk. Schlicht und einfach ging der erste Teil des erstmals in Berlin stattfindenden Neujahrsempfangs des Bundespräsidenten gestern am späten Nachmittag über die Bühne. Die Gäste: 200 Bürgerinnen und Bürger des öffentlichen Lebens. Bevor sich heute etwa 100 Diplomaten aus aller Welt im Schloß Bellevue ein Stelldichein geben, ehrte Richard von Weizsäcker gestern 56 Frauen und Männer, darunter drei Berliner: Neben dem Lichtenberger Sozialdiakon Michael Heinisch, der rechtsradikale Jugendliche von Gewalt und Fremdenfeindlichkeit abzubringen versucht, wurden auch Frau Dr. Gisela Höhne und Klaus Erforth für ihre „vorbildliche Arbeit“ mit geistig behinderten Menschen geehrt. Die Theaterwissenschaftlerin und ihr Lebensgefährte, der 20 Jahre als Regisseur am Deutschen Theater in Berlin arbeitete, sind die Initiatoren der „Sonnenuhr“, einer kulturellen Begegnungsstätte für Menschen mit geistiger Behinderung.

Der Name der im November 1990 gegründeten Sonnenuhr bezieht sich auf das Problem der inneren Zeit geistig behinderter Menschen. Konzeptionell als Projekt in der Kulturbrauerei in der Sredzkistraße im Bezirk Prenzlauer Berg eingebunden, liegt der Schwerpunkt des Vereins in vielfältiger künstlerischer Arbeit mit Behinderten: Das kulturelle Zentrum soll die häufig auf Wohnung und Arbeitsstätte beschränkte Lebenswelt dieser Menschen erweitern. Ziel des Projektes Sonnenuhr ist es beispielsweise, den Betroffenen ihre Einsamkeit zu nehmen, sie mit anderen Menschen zusammenzubringen. Künstlerische Aktivitäten stehen im Vordergrund derartiger Begegnungen. In lockerer Atmosphäre, ohne strenge Lehrpläne.

Sonnenuhr e.V. arbeitet in verschiedenen künstlerischen Bereichen: Theaterarbeit und Spieltherapie, bildende Kunst, Fotografie und Musik. 14 professionelle Künstler mit Erfahrung in Zirkelarbeit betreuen die Kreativgruppen mit insgesamt 80 geistig behinderten und unbehinderten TeilnehmerInnen.

„Der Zweck unserer schöpferischen und kreativen Arbeit liegt darin, schlicht und einfach Menschlichkeit miteinander zu erfahren, Lachen, Freude, aber auch Trauer mit anderen intensiv zu erleben“, sagt der 57jährige Klaus Erforth. „Für viele Menschen mit Behinderungen ist es überlebenswichtig, sich mit anderen Mitteln als verbalen auszudrücken, da sie Sprache und Sprechen oft nicht beherrschen.“

Der Vater eines am Langdon- Down-Syndrom (Mongoloismus) erkrankten Sohnes sieht in der Theater- und Kulturarbeit durchaus auch therapeutische Nebeneffekte. Die Entdeckung ihrer eigenen originären Ausdrucksform sei ein ganzheitliches, körperliches Erlebnis für die Behinderten. Es helfe ihnen dabei, Selbstvertrauen zu entwickeln. Darüber hinaus erhofft sich Klaus Erforth auch eine öffentlichkeitswirksame, multiplikatorische Wirkung der mit seiner Partnerin entwickelten Projekte.

Im Augenblick ist der Fortbestand des gleich nach der Wende gegründeten Vereins in den Räumen der Kulturbrauerei noch nicht endgültig gesichert. Das Gelände der Kulturbrauerei wird von der Treuhand verwaltet. Es war seinerzeit mit der Bedingung öffentlich ausgeschrieben worden, daß der künftige Investor das Konzept der Kulturbrauerei und somit auch die Sonnenuhr akzeptieren muß. Peter Lerch

Am 23. Januar führt die Sonnenuhr das Theaterstück „Prinz Weichherz“ in der Kulturbrauerei auf. Zeit: 15 Uhr.