Reime, Rhythmen, Regressionen etc.
: Hier ist des Unsäglichen Heimat...

■ Dichten ist wieder in, und alle dichten mit: Filmemacher, Bundestrainer, Ex-Terroristen und schwangere Diseusen

Erst im nachhinein ist man schlauer, denn eigentlich hatte sich der Trend zum empfindsamen Lyrikvergnügen (nach Cybersex und andrem Unsinn) ja schon vor einigen Wochen angekündigt: Da hatte nämlich der Berliner Jungfilmer Wim Wenders (den man in Japan „Bim Benders“ nennt) dem gerade erst verstorbenen Federico Fellini ein paar bewegte und bewegende Zeilen hinterhergeworfen: „Fellini / fand, daß ich aussähe, als ob ich frierte / Als wir uns am nächsten Tag wiedertrafen / brachte er mir einen Schal mit / Ein herrlicher Schal, aus Kaschmir / Den trage ich seitdem / wenn es kalt ist ,in Berlino‘“, hieß es da, und am Ende: „,Cinema‘, dein Vorname ist ,Federico‘.“ Wenig später fühlte sich der empfindsame Filmemacher ob seiner Herzblutzeilen zwar mißverstanden – wie Gerüchte wissen wollen, habe man das in einer italienischen Zeitung veröffentlichte Original schlecht übersetzt – dennoch inspirierte er auch andere, es ihm nachzutun.

Kurz vor Weihnachten jedenfalls folgte Bundestrainer Berti Vogts mit einem mutigen, kleinen, gar jungenhaft kecken Vierzeiler an die Adresse der Presse: „Ein bißchen Frieden und weniger Streit / ein bißchen mehr Güte und weniger Neid / ein bißchen mehr Liebe und weniger Haß / ein bißchen mehr Wahrheit – das wäre doch was.“ Wie schon das Wenderssche Gebilde, sorgte auch das Vogtsche Couplet für einen feuilletonistischen Nachhall, der in der herzenskalten und lyrikfeindlichen Bundesrepublik sehr selten ist. Das macht Mut, spornt an und ist schön! Auch das Fernsehen besann sich aufs Besinnliche. In der Vorweihnachtszeit konnte man jedenfalls in der Berliner „Abendschau“ tagtäglich Bezirksbürgermeister erleben, die als Weihnachtskalenderüberraschung ihre „Wunschzettel“ in Gedichtform aufsagten. Manche Poeme begannen vanitastrunken mit „Der Diepgen kommt mit leerem Sack“ (Hellersdorf), andere hofften genauso vergeblich auf Schwimmbäder und Sportplätze. Dank dieser ziemlich abgefahrenen Reime errang die „Abendschau“ im Dezember Kultstatus. Diverse Kulturfunktionäre der Stadt unterbrachen an jedem Abend ihre Arbeiten, um sich an der Bezirksbürgermeisterlyrik zu erfreuen.

Gedichte liegen wieder im Trend. „Wir schreiben wieder Gedichte...“ heißt es auch in der Januarnummer des Prinz-Magazins, dessen Versuche, sich auf dem Berliner Markt zu behaupten, inzwischen schon fast rührend sind. Wer dichtet, muß sich nicht mehr schämen und darf das auch in der Öffentlichkeit. Wie die „sechs Menschen“ – Uwe Ochsenknecht, Ute Lemper („z.Zt. schwanger“), Peter-Jürgen Boock („Ex-RAF-Mann“), Anouschka Renzi („Schauspielerin, Sternzeichen Löwe“), Rosa von Praunheim und Anna Thalbach („die dritte Thalbach“) – die „für Prinz“ „ein gedicht vielleicht / gegen den beton“ (Boock) „dichteten“.

Gar seltsam berührt es und läßt einen nicht kalt, wenn Ute Lemper („z.Zt. schwanger“) sehr experimentell, doch nicht ohne Mitgefühl für die Entrechteten dichtet („Kündigungen... Kündigungen... / Kündigungen... Kündigungen... / künftige Sozialfälle... Kündigungen...“); betroffen klettert man durch die kargen Wortgesteine eines Uwe Ochsenknecht („Hunde bellen / Vögel fliegen / Menschen sind dumm / Alles hat seine Ordnung“). Ein Höhepunkt des neuen Lyrismus, der anschaulich zeigt, daß hinter stilbewußten Fassaden um so bewegendere Regressionen wuchern, scheinen mir allerdings die ganz tief drinnen berührenden Zeilen von Anouschka Renzi (29) zu sein, deren geheimnisträchtiges Gesicht übrigens sehr an die hochsensible Juliette „wo ich bin, ist das Licht“-Binoche erinnert (laut zu lesen): „(...) Ich bin Dein Engel und hab Dich lieb! / Weißt Du, daß wir Zwillinge sind? / Jeder von uns hat einen Engel- Zwilling! / Schließe Deine Augen! / Lehne Dich zurück / und dann tauche in Dich hinein! / Werde ganz still und ernsthaft / Denn Engel sind schreckhaft / Ruf mich, rede mit mir! / Frage mich alles und sooft Du willst! / Doch denke immer daran / Engel antworten leise!“

Interessant ist übrigens, daß sich die alten Fronten, denen zufolge Lifestyle-Magazine fürs Laute und Oberflächliche zuständig sind, während öffentliche Anstalten sich der stillen Kultur widmeten, radikal verschoben haben. Auf B1 zum Beispiel, Berlins öffentlich-rechtlichem Dritten, läuft Sonntagnachts eine 15-Minuten-Sendung unter dem Titel „Lyrikmaschine“. Darin gebärdet man sich derart aggressiv- debil, daß einem jede verlogene Spiegel-, RTL oder arte-Porno- Reportage dagegen wie Höhepunkte des Humanismus vorkommt. Die Sendung, in der nachgemachte Boris-Becker- Helmut-Kohl-Friedrich-Nowottnys und andere ununterbrochen in einem Idiom, das vor gut zehn Jahren unter dem Label „Szenesprache“ firmierte, Reime über Sex, Alkohol und Zigaretten von sich stoßen, ist wahrscheinlich sogar den Machern der verantwortlichen „gag“-Agentur peinlich – als Autor firmiert jedenfalls ein Kürzel (H.J. o.ä.). Detlef Kuhlbrodt