■ Verzichtet die Ukraine auf ihr nukleares Arsenal?: Atomwaffen kann man nicht essen
Die Ukraine, die drittgrößte Atommacht der Welt, verspricht, ihre Nuklearwaffen abzugeben – ausgerechnet an Rußland, den Nachbarn, den sie am meisten fürchtet. Und das auch noch ohne Gegenleistung. Die Erfolgsmeldung, die Clinton gestern vormittag vom Nato-Gipfel verkündete, war wohl für die USA, Rußland und den Rest Europas zu schön, um nicht sofort von Kiew aus relativiert zu werden: Denn traurigerweise sind die Atomwaffen der einzige Grund dafür, daß die Ukraine überhaupt im Westen wahrgenommen wird. Seit ihr Präsident Leonid Krawtschuk die nicht mal halbherzigen Wirtschaftsreformen im November endgültig einstellte und zur Planwirtschaft, einschließlich fixierter Umtauschkurse für den praktisch wertlosen Karbowanez, zurückkehrte, ist der Außenhandel des Landes zusammengebrochen. Ohne Deviseneinnahmen wird das Land bald gar keine Öl- und Gaslieferungen aus Rußland mehr bezahlen können. Ohnehin laufen die Atomkraftwerke, auch Tschernobyl, auf Hochtouren.
Politisch herrscht die alte Nomenklatura, die sich für die Wahlen im Frühjahr ein Gesetz bastelte, das ihr auch im neuen Parlament die Mehrheit sichern wird. Das derzeitige kommunistisch dominierte Parlament hat Krawtschuk bislang immer in Abrüstungsfragen gebremst und würde das, ohne handfeste Vorteile, wohl auch diesmal tun. Vor diesem Hintergrund kann Krawtschuk Geld aus dem Westen im Moment tatsächlich nur durch atomare Erpressung erwarten.
Jenseits der aktuellen Machthaber hätte aber wohl jede ukrainische Regierung Schwierigkeiten damit, die eigenen Nuklearwaffen ausgerechnet in Rußland abzuliefern, auch wenn sie dort vertragsgemäß zerstört werden. Die russische Minderheit, 20 Prozent der Bevölkerung, lebt zum größten Teil entlang der ukrainisch-russischen Grenze. Sie hält wenig von der ukrainischen Unabhängigkeit. Auch in Rußland selbst glauben viele, daß der ukrainische Teil des fruchtbaren Schwarzerde-Gebiets eigentlich russischer Boden, die Trennung darum trotz des Unabhängigkeits-Referendums der Ukrainer künstlich sei. Und daß Chruschtschow die militärstrategisch wichtige Krim – zudem ein beliebtes russisches Feriengebiet – an die Ukraine abgetreten hat, wird ebenfalls von vielen Russen nicht akzeptiert.
Kurzfristig spricht also aus ukrainischer Sicht nichts für die atomare Abrüstung. Auf längere Sicht allerdings kann das Land nicht in waffenstarrender Isolation überleben. Je weniger die Ukraine auf dem Weg zur Marktwirtschaft vorankam, desto wichtiger wurden für sie wieder die russischen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen. Die zusammenbrechende Industrie ist auf Abnehmer und Vorprodukte vor allem aus Rußland existentiell angewiesen. Die Landwirtschaft, der wichtigste Wirtschaftszweig, ist ebenfalls nicht auf die Eigenversorgung der Ukraine ausgelegt, sondern als großagrarische Kornkammer für das gesamte Gebiet der Ex-UdSSR. Die Atomkraftwerke reichen, auch wenn sie mit Vollast gefahren werden, zur Energieversorgung des ganzen Landes nicht aus. Und schon heute gibt es ein für jeden sichtbares Wohlstandsgefälle zwischen Rußland und der Ukraine. Jelzin und Clinton haben darum auf längere Sicht die besseren Argumente auch für die Ukrainer. Atomwaffen kann man nicht essen. Donata Riedel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen