■ Cash und crash
: Schlange am Aktienschalter

Warschau (taz) – „Sie hätten dann die Nummer 653“, erklärte die Dame aus dem Polski Fiat heraus einem Kameramann des polnischen Fernsehens, nachdem sie einen kurzen Blick auf ihre Liste geworfen hatte. Die Dame im Fiat ist Herrin über die sogenannte „gesellschaftliche Liste der Bewerber um den Kauf von Aktien der „Schlesischen Bank“. Solche Listen entstehen zur Zeit überall im Lande, wo diese Aktien verkauft werden. Potentielle Käufer nächtigen bei Temperaturen um den Gefrierpunkt vor den Ausgabestellen der Banken. Schlangen bilden sich, Listen werden aufgestellt, reichere Leute mieten sich Steher, Drücker oder Strohmänner, um die Verkaufsbeschränkungen zu umgehen.

Daß Rollkommandos durchtrainierter, aktienversessener Karate-Kämpfer Kundenschlangen attackieren, war bereits beim Verkauf der „Bank Wielkopolski“ in Posen beobachtet worden. Seither haben die Szenen vor den Aktienverkaufsstellen an Exotik nichts eingebüßt.

Die Schlangen vor den Banken sind nur das äußere Anzeichen für den Boom auf dem polnischen Aktienmarkt. Wer Anfang des Jahres 1.000 DM in Aktien der Glasbläserhütte Krosno anlegte, und sie heute verkauft, kann etwa 20.000 DM mit nach Hause nehmen – steuerbegünstigt, versteht sich. Wer sein Geld in Polens ersten Investmentfonds „Pioneer“ gesteckt hat, streicht eine Wertsteigerung von 199 Prozent ein – bei einer Inflationsrate von 35 Prozent und geringerem Risiko als an der Börse. 1993 explodierte der Index der Warschauer Börse (WIG) wie kein anderer Aktienindex Europas: Heute liegt er zwölfmal höher als im Dezember 1992.

Experten erklären den Warschauer Börsenboom vor allem mit einer großen Nachfrage nach Anlagemöglichkeiten, der bisher jedoch nur Aktien von 22 Firmen gegenüberstehen. Im neuen Jahr sollen zehn weitere dazu kommen. Börsenchef Wieslaw Rozlucki geht davon aus, daß dies den Boom etwas beruhigen wird. Daß die Nachfrage zurückgeht, gilt dagegen als unwahrscheinlich: Zahlreiche ausländische Investoren haben inzwischen die Warschauer Börse entdeckt.

Kein Wunder: Wer im abgelaufenen Jahr in Polen in Aktien investierte, ging in jedem Fall mit satten Gewinnen nach Hause. Nur zwei der zweiundzwanzig börsennotierten Firmen wiesen 1993 keinen Bilanzgewinn aus. Bei der Mehrzahl lag der weit über der Inflationsrate. Dividenden werden in Polen nur pauschal mit 20 Prozent besteuert und Spekulationsgewinne überhaupt nicht. Klaus Bachmann