Kleinere Lebensbereiche

Subjektive Fahrten, unheildräuende Weitwinkel und „originelle“ Bildausschnitte: Tom Tykwers „Die tödliche Maria“ bleibt vorhersehbar  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Um die Oberfläche eines lichten und lustigen Lebens geht es dem Nachwuchsregisseur Tom Tykwer in seinem vom Sputnik-Filmverleih produzierten ersten Spielfilm nicht, eher um die Entfremdungen und Enteignungen mißlingender Existenz. Maria (Nina Petri) also, eine blaß sommersprossige Hausfrau etwa Ende Dreißig, lebt ein trauriges Leben: Unbewegt starrt sie an die Schlafzimmerdecke und denkt an andres, während ihr Mann sich angestrengt auf ihr abrackert und sich wegdreht, nachdem er zum freudlosen Ende gekommen ist. Das rechte Leben ist das nicht. Immergleiche Tage schleppen sich in der zwischen aggressiven Rottönen und depressiven Erdfarben gehaltenen Wohnung dahin: Um sechs Uhr morgens beginnt der Tag mit dem nervtötenden Klingeln des Weckers, das Aufstehen ist eine Last, das Frühstücken eine Qual; desinteressiert liest der Mann in der Zeitung und geht dann zur Arbeit. Das ist der herzlose Heinz, doch auch der Vater (Josef Bierbichler) terrorisiert Maria. Bis auf seinen linken Arm gelähmt, grantelt er böse in seinem Zimmer und hat zwischen Fernsehen, Baden und Stuhlgang wenig Freude am Leben. Geredet wird wenig; die Sätze der Männer beschränken sich auf Befehle, Maria antwortet einsilbig und schaut traurig mit dem immergleichen Gesichtsausdruck in die Gegend.

Doch kleine Bereiche eines selbstbestimmten Lebens hat sie sich erobert: Zum einen sammelt sie Insekten, die sie nach Gattung und Größe in einer Schachtel ordnet, zum anderen hat sie einen hölzernen Talisman, den sie „Formiso“ nennt und der an einen Phallus erinnert. Formiso ist nicht nur Adressat zahlloser Tagebuchbriefe, die sie seit ihrer Kindheit in den Pausen beschwerlichen Daseins schreibt. In seinem Innern versteckt sie auch das, was sie vom kargen Haushaltsgeld abzwackt.

Sehnsüchtig blickt die traurige Maria oft aus dem Fenster, wenn „Dieter Pohlmann“, der Nachbar, der ein bißchen an Roman Polanski aus dem „Mieter“ erinnert, aus dem Hinterhaus mit seinem Fahrrad nach Hause kommt. Sehnsüchtig blickt er zurück und ruft sie an und verabredet sich stotternd mit ihr. Zitternd vor Schüchternheit kommt sie in die gar seltsame Wohnung des einsamen Junggesellen. Bis zur Decke ragen extrem ordentlich gestapelte Zeitungstürme. Viel tausend Bücher schaffen ein kauziges Ambiente. Er ordne Namen von Autoren, erklärt er, und schreibe auf, wo man ihre Texte finden könne. Das sei so sein Hobby. Außerdem schicke seine Mutter ihm zweimal im Jahr ein Päckchen. Und was denn ihre Mutter so mache? Traurigkeit wird hochgespült, denn Marias Mutter starb bei ihrer Geburt. Daran hatte sie lang nicht mehr gedacht und bedenkt nun ihr Leben. „Es muß alles anders werden“, hieß es ja schon einprägsam auf dem Plakat zum Film. Also vernachlässigt sie ihre haushälterischen Pflichten – was ihren widerlichen Mann sehr empört; belügt ihn auf die Frage, wo sie sein Geld versteckt habe und vernachlässigt auch ihren Vater. Erinnerungen kommen fordernd vorbei, als sie den Berg von Briefen durchsieht, den sie an ihren Talisman schrieb: Die im „fisheye“- Effekt gefilmte böse Lehrerin, die das verträumte Kind anbrüllt; das einsam-traurige Leben mit dem Papa, der mit seinen Freunden am Tisch pokert und sie gar häufig strafend in die Speisekammer sperrt; das erste beängstigende Menstruationsblut, der erste Kuß, den ihr ein ehemaliger Klassenkamerad auf den Mund drückt – und der Papa guckt zu und kriegt einen Schlaganfall, und den Papa muß sie pflegen seitdem, und der Papa verschachert sie an seinen Freund Heinz.

Das Leben, das sie bislang führte, ist eine Katastrophe. So geht sie am frühen Morgen den schüchternen Nachbarn küssen, träumt komische Träume, ignoriert die hilfeheischenden Rufe des Papas und schüttet ihrem Mann, nachdem der wieder was Gemeines gesagt hat, das kochende Kaffeewasser über den eklen Heinzkörper, und der kippt vom Stuhl rücklings in den phallusförmigen Talisman hinein und liegt dann tot in seinem Blut. Der Nachbar kommt nochmal, entdeckt die insektenumzingelte Heinzleiche, flieht verstört, Maria möchte sich umbringen, kippt aus dem Fenster und wird von dem Mieter aufgefangen. Da liegen sie nun angeschlagen Arm in Arm, und der Film ist zu Ende.

Die SchauspielerInnen, die bis auf Josef Bierbichler durchgehend mit lediglich einem Gesichtsausdruck auskommen, überzeugen zwar. Vor allem Josef Bierbichler, der sich nicht auf eine durchgehend „böse“ Rolle festlegen ließ, findet sich ganz großartig in die Schwere des Gelähmtseins, dennoch ist der Film mißlungen. Alles ist vorhersehbar – daß Maria Mann und Vater umbringen wird, ist schon nach den Eingangssequenzen klar. Ständig bemüht sich die Kamera, mit subjektiven Fahrten, unheildräuendem Weitwinkel und „originellen“ Bildausschnitten eine David-Lynch-Atmosphäre aufkommen zu lassen; durchgehend penetrant kleistert der Ton den gesamten Film mit Herzklopfen, Uhrenticken und bedrohlicher Musik unheilschwanger zu. Eigene Ideen des jungen Regisseurs sucht man ganz vergeblich. So ist „die tödliche Maria“ ein epigonaler Mischmasch aus Polanski („Ekel“, „Mieter“) und David Lynch („Eraserhead“), dem – typisch deutsch – jeglicher Hauch von Selbstironie fehlt. Regelrecht ärgerlich sind lieblose Fehler im Detail: So spuckt das Röhrenradio einer Déjà-vu-Sequenz auf Knopfdruck Töne, wo ein jeder doch weiß, daß zwischen Anschalten und Funktion eines Röhrenradios mindestens eine Minute vergeht.

„Die tödliche Maria“. Regie: Tom Tykwer, mit Nina Petri, Josef Bierbichler u.a. BRD 1993, 106 Minuten.