Die Kumpel des Zorns

Über „Germinal“, den neuen Film von Claude Berri  ■ Von Jacques Siclier

Claude Berri hat sehr lange gebraucht, um sein „Germinal“-Projekt zu verwirklichen, das ihm so am Herzen lag. Das Elend und der Arbeiteraufstand, die Mine und Zola. Warum? Um eine Liebesschuld an seinem Vater abzutragen, der gar kein Minenarbeiter, sondern Kürschner war... Und nun kommt der Film in einem Moment in die Kinos, wo die letzten Kohlengruben Frankreichs schließen. Mit einem Riesenbudget und oft inspirierten Schauspielern – Miou- Miou, Judith Henry, Depardieu, Renaud, Carmet – und authentischen Statisten. „Germinal“ ist ein ernsthaftes und populäres Fresko und weniger anachronistisch, als man hätte erwarten können.

Wahrheit und Legende der Mine

Im Jahre 1878 veröffentlicht Hector Malot „Sans famille“, einen Roman für Kinder, der einen enormen und dauerhaften Erfolg erringt. Nach vielen Abenteuern auf den Straßen Frankreichs gelangt Rémi, das Findelkind, in eine kleine Minenstadt im Kohlebecken von Alais. Der Romancier widmet dieser Episode fünf Kapitel. Ausführlich beschreibt er die Entdeckung der Steinkohle, die Ausbeutung der Minen von La Truyére, das Leben unter Tage und im Dorf. Rémi wird angestellt, um auf dem Grund der Mine einen Kohlenwagen zu schieben, und gehört zu den wenigen Überlebenden einer Überschwemmung des Bergwerks, in dem die Arbeiter vierzehn Tage lang eingeschlossen bleiben.

Dieses Werk erhielt einen Preis der Academie francaise. Unter dem Anschein eines objektiven Realismus erzählt das erbauliche Buch, was damals, zur Zeit der industriellen Revolution, als Legende des unterirdischen Proletariats gegolten haben mag.

„Der Beruf des Minenarbeiters ist keineswegs abträglich für die Gesundheit. Abgesehen von einigen Krankheiten, die durch den Licht- und Luftmangel verursacht werden, ist der Minenarbeiter genauso gesund wie der Bauer in einem begünstigten Landstrich. Ja, er hat gegenüber diesem sogar noch den Vorteil, vor den Unbilden der Witterung, dem Regen, der Kälte oder Hitze, geschützt zu sein. Seine große Gefahr liegt in der Verschüttung, den Explosionen und Überschwemmungen und in Arbeitsunfällen, die er durch seine Fahrlässigkeit oder Ungeschicklichkeit ausgelöst haben mag.“ (Band 2, Kapitel 3)

Das war genau das, was die bürgerliche Gesellschaft hören und glauben wollte.

Sieben Jahre später läßt Emile Zola über dieser Gesellschaft den Donnerschlag „Germinal“ erschallen. In diesem Roman über die Minenarbeiter in Frankreichs Norden verarbeitet er, getrieben aus Verständnis, Mitleid und Empörung, alle Wahrheiten über die Ausbeutung des Proletariats durch die Zechen. Elend und Hunger in den Arbeitersiedlungen, Kinderarbeit, Arbeiterbewegung, Streik, Unterdrückung und den Alptraum eines Unglücks, bei dem lebendige Menschen begraben werden. Und, trotz allem, die Hoffnung der Besiegten in die Zukunft.

„Germinal“ ist und bleibt das Symbol der sozialen Realität und der den Sklaven der Flöze zurückgegebenen Menschenwürde. Ein Buch, das die populäre Kultur über alle gesellschaftlichen Veränderungen hinweg als Leitstern, Exempel und Gedenkschrift begleitet hat. Es war Zola – der 1902 gestorbene –, der das französische Kino zwang, der sozialen Wirklichkeit auf der Spur des Naturalismus Rechnung zu tragen.

Anders als „Das Schlachthaus“, das zu allen Zeiten verfilmt wurde, und René Cléments „Gervaise“ (1956), verschwindet „Germinal“ in den dreißiger und vierziger Jahren von der Leinwand. Das Thema der Minen und der Kumpel bleibt dennoch präsent.

Einige historische Bezugspunkte

Es bleibt Claude Berri vorbehalten, Zolas Roman in seiner sozialen Wahrheit und epischen Dimension wiederzuerschaffen. Aber das Leben der Kumpel und ihre historische Rolle haben zuvor schon viele Regisseure inspiriert.

1931: Georg Wilhelm Pabst, der berühmte Regisseur der „Freudlosen Gasse“, von „Lulu“ und der „Dreigroschenoper“, dreht „Kameradschaft“. Das Drehbuch greift auf ein historisches Unglück, die Katastrophe von Courrires von 1906, zurück. Kumpel aus dem Ruhrpott waren damals ihren französischen Kollegen zu Hilfe gekommen. Der Film spielt allerdings nach dem Ersten Weltkrieg und verbindet die Idee der Arbeitersolidarität mit der einer deutsch-französischen Brüderlichkeit. [...]Jenseits seiner idealistischen Ideen über die Abschaffung der Grenzen zeigt Pabst, selbst bei der Studio-Nachstellung der Szenen im Schacht, einen fast dokumentarischen Realismus. Er erzählt vom Alltag der Arbeiter, von Arbeitslosigkeit und Fremdenfeindlichkeit. Die französischen und deutschen Schauspieler sprechen in ihren eigenen Sprachen. Die Nazis werden diese soziale und europäische Utopie hinwegfegen.

1938: Unter dem Titel „Les hommes sans soleil“ bringt Maurice de Canonge „Grisou“, ein Theaterstück von Pierre Brasseur und Marcel Dalio, auf die Leinwand. Der Film spielt in Lens und erzählt ein Liebesdrama. Die Frau eines Kumpel betrügt ihn mit seinem besten Freund, der in der gleichen Mannschaft arbeitet. Ende...

Nach der Volksfront sinken die Chancen für ein soziales Kino. 1938 ist noch das Jahr von Renoirs „La bete humaine“ mit Gabin, dem Prolo des französischen Kinos, als Maschinist. Zweifellos ein großer Renoir. Aber er spielt in der Gegenwart und hat mit Zola nichts zu tun. Der Regisseur wollte es so.

1948: Louis Daquin dreht nach einem Buch von Vladimir Pozner den von der Bergwerksleitung streng überwachten Film „Le point du jour“. Der Film spielt in den realen Exterieurs von Lens und Lievin und in einem in einer Halde nachgebauten Dekor, das später als Schulungsmine dienen wird. [...]Das Erwachen der Arbeitersiedlung in der Eingangssequenz von „Le point du jour“ erinnert an einige Seiten aus „Germinal“. Aber dramatisiert wird nicht, und es gibt keine spektakuläre Katastrophe. Daquin feiert mit nüchternem Realismus (der als sozialistischer Realismus à la Francaise galt) das neue Einverständnis zwischen den Klassen – symbolisiert in der Einigung des Pariser Ingenieurs mit dem Gewerkschafter – und die Größe des Kumpelberufs in seinen alltäglichen Schwierigkeiten. Von einer gloriosen kommunistischen Zukunft ist keine Rede. Dafür wird an einen Streik von 1941 unter der Besatzung erinnert: „Hunderttausend Kumpel haben zwölf Tage lang die Arbeit niedergelegt. Zweitausend Verhaftungen, tausendfünfhundert Deportierte.“ Im Herbst 1948 brechen in den Zechen des Nordens und Ostens Konflikte aus. Daquins Film kommt erst im Mai 1949 heraus. Ohne großen Erfolg. [...].

Ein Film zur richtigen Stunde

1963 wird für eine Art Gedenkveranstaltung (die Handlung spielt hier 1863) „Germinal“ wieder aus der Versenkung geholt. Yves Allgret dreht den Film in Schwarzweiß in einer in Ungarn nachgebauten Bergarbeitersiedlung mit bekannten Schauspielern. Der Drehbuchautor, Charles Spaak, mußte den Roman so stark kürzen, daß es auf eine Schematisierung hinauslief. Die Streik-, Repressions- und Katastrophenszenen sind angesichts der Bedingungen einer franko-ungarischen Koproduktion und der Tatsache, daß Allgret kaum mehr als ein Routine-Regisseur ist, recht gut gelungen. Wie auch immer: Die Franzosen der neu aufgestiegenen Konsumgesellschaft sind nicht gerade begeistert von dem Unterfangen...

Claude Berri braucht den Vergleich mit Yves Allgret also nicht zu scheuen, als er mit der Arbeit zu seinem „Germinal“-Drehbuch beginnt. Aber „Le brasier“ hätte ihn fast zur Aufgabe seines Projekts bewogen. Dieser Erstlingsfilm des jungen Regisseurs Eric Barbier, dem der glückliche Produzent von „Drei Männer und ein Baby“ ein enormes Budget zur Verfügung stellt, entsteht 1990 an überwiegend polnischen, aber auch französischen und belgischen Drehorten. Die Geschichte, die 1932 bis 1934 im französischen Norden spielt, konfrontiert polnische Gastarbeiter mit den von der Wirtschaftskrise stark betroffenen französischen Kumpel. Die Rivalität eines schönen polnischen Jungen mit einem französischen Alkoholiker um die Liebe einer Frau könnte aus „Germinal“ stammen. Der Film mit seiner Ambition eines sozialen und historischen Freskos verliert sich in verheerendem Ästhetizismus und scheitert direkt bei seinem Start im Januar 1991.

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Ein solches Scheitern kann nicht froh stimmen – es schadet dem gesamten französischen Kino. Zumal die in „Le brasier“ angesprochenen Themen (Arbeitslosigkeit, Ausländerfeindlichkeit, soziale Unsicherheit und Entwertung der Arbeit) die Probleme der französischen Gesellschaft zu Beginn der neunziger Jahre widerspiegeln. Drei Jahre später hat sich die Lage nur verschlimmert. „Germinal“ wird so zu einem großen populären Film einer Welt in der Krise, die sich auf die Erfahrungen der Arbeiterschaft am Ende des 19. Jahrhunderts besinnt. Claude Berri hat sich nicht in dieses Abenteuer gestürzt, weil er die Aktualität von Zolas Roman in einer finsteren wirtschaftlichen Stimmung so instinktiv gewittert hätte.[...] Für seine seit „Jean de Florette“ bekannte Entschlossenheit, große kommerzielle Filme zu produzieren, die sich an literarische Klassiker anlehnen, gibt es auch ganz persönliche Motive. „Germinal“, das Epos von den Arbeitern, die von einer gerechteren Welt träumen, ist für ihn auch mit der Erinnerung an seinen Vater, Hirsch Langmann, verbunden. Von seinem Vater hat er schon in seinen frühen Filmen erzählt, ihn hat er 1970 zum Helden von „Cinéma de papa“ gemacht. Und heute hat er diesem längst verschwundenen und doch immer noch lebendigen Vater „Germinal“ gewidmet. Die Emotion, die sich mit den ersten Bildern des Films einstellt und die die gesamte Inszenierung kennzeichnet, kommt auch aus diesem Akt der Sohnesliebe.

Anfang 1884 wußte Zola noch nicht recht, welches Thema er nach „Lebensfreude“ aufgreifen sollte. „Germinal“ hat er dann in einem Sturm der Leidenschaft nach dem Streik der Kumpel von Anzin verfaßt. Um „Germinal“ in den Zyklus der „Rougon-Macquart“-Romane einzureihen, hat er die Figur des Etienne Lantier in das Buch eingeführt, den jüngsten der drei Söhne von Gervaise Macquart, der Wäscherin aus dem „Schlachthaus“. Anders als seine Brüder Claude, dem Maler aus dem „Werk“, und Jacques, dem Lokomotivführer aus „Bestie Mensch“, leidet er nicht unter dem schweren Erbe seiner Mutter, „die in der Trunkenheit gezeugt wurde und in Elend und Suff im Jahre 1869 verstarb“. Er ist der Arbeiter, der aus der Fremde kam, der von sozialistischen Ideen beseelte Träumer, der die Kumpel – unter die er durch Zufall gerät – in den Streik führt. Der Stammbaum der Rougon- Macquarts aus dem letzten Buch des Zyklus deutet an, daß er später nach Noumea deportiert wird, „wo er verheiratet sein und Kinder haben soll“.

Eine Zeitlang verfolgte Zola die Idee, ihn in einem Roman über die Kommune wieder auftreten zu lassen. Er verwirklichte sie nicht. Aber warum – so kann man träumen – sollte er nach seiner Erfahrung von Montsou nicht an der Kommune beteiligt gewesen sein? In „Germinal“ ist er der Mann, der ankommt, Wind sät, Sturm erntet und nach vollbrachter „Arbeit“ – nachdem er das Bewußtsein der Ausgebeuteten wachgerüttelt hat – wieder davonzieht.

Wie Etienne, die Romanfigur, kommt auch Renaud von anderswo her. In der fantastischen Vision einer nächtlichen, im Lärm der Maschinen tosenden Mine betritt Renaud, der Sänger, erstmals ein Kinoset. Mit seinem bleichen Gesicht, den Rändern unter den Augen, dem fiebrigen Blick und der Kleidung eines städtischen Arbeiters ist es wirklich Etienne, der da auftritt. In keinem Moment erblickt man hinter Lantier den Sänger Renaud. Er ist Schauspieler, eine soziale Figur und fiktive Person.

Über den Erfolg einer Verfilmung

Berris Verfilmung hält sich treu an die wilde Fabel des Romans – das ist normal. Der Regisseur hatte die exzellente Idee, die Handlungszeit des Romans – das zweite Kaiserreich – mit den 1880er-Jahren zu vermischen, in denen der Roman geschrieben wurde. Er hat viel gefilmt und beim Schnitt manche Szenen weggelassen, einerseits um zu kürzen, vor allem aber, um dem Film einen Rhythmus zu geben. Über manche Details könnte man streiten (wo ist die Verführung Lantiers durch die Mouquette, wo Jeanlins Mord an dem bretonischen Soldaten?). Aber es gibt eine kontinuierliche Bewegung in dem Film, eine Verschmelzung von Ereignissen und Personen, die den epischen und romanesken Gestus von Zolas Fresko überzeugend auf die Leinwand überträgt. Die Kumpel sind noch nicht organisiert. Geschlagen von Arbeit und Elend steigen sie mit einer Riesenkraft aus den Eingeweiden der Erde auf, in denen man sie begraben wollte, und werden zu Kumpel des Zorns. Die Interaktion zwischen den Hauptpersonen und der Masse der Arbeiter ist atemberaubend. Ohne Zweifel hat Berri hier von den Statisten profitiert, die an den Drehorten angeworben wurden – Minenarbeiter, die die Traditionen des Bergbaus hochhalten und auf der Leinwand ihre Vorfahren und deren Träume und Kämpfe neu zum Leben erwecken.

Durch seine Konzentration auf die Familie Maheu hat Berri den Roman noch dramatisiert. Jean Carmet als Bonnemort, Gérard Depardieu als Maheu, die Darsteller der Kinder, Judith Henry als Catherine, gehen uns zu Herzen. Aber die Galionsfigur ist Miou- Miou. Sie ist die Maheude, eine Frau von verblichener Schönheit, Mutter einer an Köpfen reichen Familie, Arbeitsameise am Herd, die die Krümel zusammensammelt, um die Ihren zu ernähren. Fast noch glücklich bei der Fête de la ducasse, dem letzten Aufschub, der dem Volk der Kohle vor dem großen Kampf gewährt wird, macht sie den Streik zu ihrer Sache und hört nicht auf zu kämpfen, als die Männer schon beinahe aufgeben wollen. Sie wird Schläge einstecken und ihre Toten zählen. Miou-Miou wächst über sich hinaus, eine Tragikerin, die herzzerreißend schreien kann und schluchzen ohne Tränen. In einer Welt der Sklaven, die an ihren Ketten rütteln, stellt sie für sich allein die Lage der Frauen dar. Ihre letzte Begegnung mit Lantier, bevor sie selbst in die Grube einfährt, ist so stark, daß man am liebsten auf die von Zola übernommene Aufwallung des Endes verzichten würde, um die Intensität ihres nüchternen Schmerzes an den Schluß zu stellen.

Claude Berri hat sehr darauf geachtet, daß die Portraits der Repräsentanten der Bourgeoisie nicht überzeichnet werden, und er hat gut daran getan. Was er hier zeigt, entspricht den Erwartungen. Recht hatte er auch, die früh-marxistischen oder wild anarchistischen Reden des Romans zusammenzustreichen (Laurent Terzieff ist ein Totem, dem man die Gesichtszüge Lenins verpaßt hat). Zu gut weiß man hundert Jahre danach, wie sie mißbraucht wurden. Die Bilder Yves Angelos fallen weder in die Kategorie des Akademismus noch des Ästhetizismus und schon gar nicht des Miserabilismus. Eher schon, und das ist faszinierend, in die der Suche nach einer historischen Wahrheit. Sein Stil findet die Entsprechungen zu den von Kohlenstaub geschwärzten Gesichtern und Körpern, zu den Fieberkurven der Demonstrationen auf den Straßen und Halden, zur Entfesselung der plündernden Menge und der Frauen, die sich am Krämer rächen, zu den Schrecken des unschuldig erlittenen Todes und zur letzten Konfrontation zwischen Lantier und Chaval auf dem Grund des Bergwerks (Jean-Roger Milo gibt als Chaval eine erstaunliche Vorstellung à la Robert le Vigan).

Das Bild des Käfigs, in dem die Kumpel in die Grube, den klaffenden, finsteren Schlund der Erde, einfahren und der sie später als traurige, zerschlagene, geschwärzte Gestalten wieder ausspuckt, wird lange in Erinnerung bleiben. Es ist der wiedergefundene Zola mit seinem Durst nach Gerechtigkeit und sozialem Fortschritt und seinem Appell für die Menschenwürde. So wird aus Berris Film ein mutiger und unverzichtbarer Film der Gegenwart.

„Germinal“, nach dem Roman von Emile Zola. Regie: Claude Berri. Mit Renaud, Gérard Depardieu, Miou-Miou, Judith Henry u.a. Frankreich 1993, 160 Min.

Gekürzte Fassung aus „Le Monde“, 30. September 1993.

Aus dem Französischen von Thierry Chervel.