Die Ökologen und der Held der Arbeiter

In Niedersachsen wird am 13. März ein neues Landesparlament gewählt. Eine Bilanz von vier Jahren Rot-Grün  ■ Von Jürgen Voges

Die vier Jahre mit der SPD sind so gut wie geschafft. So werden die niedersächsischen Landtagsgrünen jenen chromglänzenden hübsch- häßlichen Wanderpokal noch lange ihr eigen nennen dürfen. Natürlich hält die Fraktionsvorsitzende Thea Dückert jenen „rot- grünen Wanderkelch“ in allen Ehren, den die Berliner AL einst für die jeweils längste Koalition mit der SPD gestiftet hat – auf der Fensterbank ihres Büros hat sie ihn plaziert. Doch sie sagt heute: „Nachzuweisen, daß wir regierungsfähig sind, stand für uns nur am Anfang im Vordergrund.“

Auf dem halbmeterhohen Wanderpreis für den grünen Koalitions-Rekordhalter konnten bisher nur die Daten vorzeitig gescheiterter Bündnisse mit der SPD eingraviert werden. Die niedersächsischen Landtagsgrünen sind tatsächlich die ersten, die eine volle Legislaturperiode mit der SPD durch- oder ausgehalten haben, auch wenn inzwischen rot-grüne Landesregierungen so selbstverständlich geworden sind, daß der Rekord kaum noch auffällt.

Eine „innovative Angelegenheit für die ganze Republik“ hat der SPD-Landesvorsitzende Johann Bruns jüngst die niedersächsische Koalition rückblickend genannt. „Wir haben bewiesen, daß die Zusammenarbeit mit den Grünen ein funktionierendes Modell ist und dadurch die politische Landschaft in der Bundesrepublik verändert“, sagte er. Die FDP habe ihre Funktion als Mehrheitsbeschaffer, als Zünglein an der Waage, ein für allemal verloren.

Die Grünen allerdings, voran Thea Dückert, die damalige Spitzenkandidatin, waren vor vier Jahren für weit mehr in den Wahlkampf gezogen als nur für eine Veränderung der politischen Landschaft. Sie priesen das „rot- grüne Reformprojekt“, versprachen den ökologischen Umbau Niedersachsens und selbstverständlich den Ausstieg aus der Atomkraft. Auf dem grünen Landesparteitag, der am Ende das Bündnis mit der SPD zu besiegeln hatte, wäre die rot-grüne Koalition nicht zu haben gewesen ohne das festgeschriebene „Aus“ für das Atommüllendlager Schacht Konrad und auch nicht ohne „die umweltverträgliche Abfallwirtschaft“ mit dem Schwerpunkt Abfallvermeidung, die der Koalitionsvertrag versprach.

Die Bilanz, die die Grünen selbst nach vier Jahren ziehen, ist widersprüchlich: „Ich hatte eigentlich nicht erwartet, daß man in vier Jahren so viel bewältigen kann“, sagt Fraktionschefin Thea Dückert zunächst und beginnt dann bei den Pluspunkten, mit jenen „sechzig Straßenbauprojekten des Landes“, die die Koalition „gekippt habe“. Den Straßenneubau habe man auf Null heruntergefahren, und die dafür eingeplanten Gelder seien allesamt in den Öffentlichen Personennahverkehr geflossen. Danach nennt sie gleich die „Lunplate“, ein 1.200 Hektar großes Areal südlich von Bremen, das einst für neue Industrien vorgesehen war und das die Landesregierung unter Naturschutz gestellt hat. Für Thea Dückert gibt es „im ganzen Bundesgebiet keine vergleichbare Umwandlung eines Industrieansiedlungsgebietes“. Auch den Hafenneubau in Cuxhaven zählt sie auf der Habenseite auf, der ohne Landschaftsverbrauch auf altem Industriegelände auf den Weg gebracht wurde.

Man hat die Erfolge einer Landesregierung, auch einer rot-grünen, wohl gerechterweise an ihren beschränkten Kompetenzen zu messen, die irgendwo zwischen denen eines Oberbürgermeisters oder Stadtrats und der großen Politik liegen. Alles einst im Koalitionsvertrag Vorgesehene abgearbeitet hat da etwa der niedersächsische Innenminister Gerhard Glogowski. Da gibt es ein Mehr an Kontrollen im neuen niedersächsischen Verfassungsschutzgesetz, doch die Aufgabenstellung des niedersächsischen Geheimdienstes liegt immer noch nahe an den Vorgaben der Bundesgesetze. Da hat sich Bundesratsminister Jürgen Trittin engagiert um eine humane Flüchtlingspolitik bemüht, sind in Niedersachsen die meisten Flüchtlinge immer noch in kleinen Wohnheimen untergebracht und erhalten weiterhin Geld anstelle von Sachleistungen. Doch Abschiebungen kann auch Niedersachsen nicht mehr verhindern.

Die größten Versäumnisse der grünen Politik

Pikanterweise sind es ausgerechnet die ureigensten Felder grüner Politik, in denen auch die Grünen Fehler und Versäumnisse der rot- grünen Koalition eingestehen. „Die Bilanz in der Umwelt und Atompolitik läßt viel zu wünschen übrig“, sagt Dückert. Die meisten Zugeständnisse hatten die Grünen der SPD einst in den Koalitionsverhandlungen in Sachen Atomenergie abringen können. Es ist symptomatisch, daß der altgediente Kämpfer gegen die Atomindustrie, der Landtagsabgeordnete Hannes Kempmann, vor wenigen Wochen die Nase von der Atompolitik der eigenen Regierung endgültig voll hatte und als „atompolitischer Sprecher“ der Landtagsgrünen zurücktrat. Eine „Katastrophe“ nennt er, was das Umweltministerium gegen AKWs und Entsorgungsprojekte eben nicht zuwege gebracht hat.

Da sollte doch das AKW Stade stillgelegt werden, in höchstens zwei Jahren, hieß es damals während der Koalitionsverhandlungen. Auch die übrigen niedersächsischen AKWs wollte Rot-Grün auf Sicherheitsmängel untersuchen. Am Ende ist nicht einmal das Sicherheitsgutachten zu Stade rechtzeitig fertig geworden. Der Meiler ging vor dem Wahltermin wieder ans Netz.

Das Planfeststellungsverfahren zum Atommüllendlager Schacht Konrad wollten die Koalitionspartner, „nicht weiter verfolgen“. Verzögern konnte es die Umweltministerin Monika Griefahn im schier endlosen Streit mit ihrem Bonner Amtskollegen Klaus Töpfer. Ein Planfeststellungsbeschluß, eine Genehmigung des Endlagers, ist vor den Wahlen am 13. März nicht mehr zu erwarten. Doch ansonsten macht sich in Salzgitter Resignation breit. „Wie es aussieht, wird Schacht Konrad in Betrieb genommen“, konnte Heinz Laing, AKW-Spezialist bei Greenpeace, jüngst auf einer Veranstaltung in Salzgitter nur noch verkünden.

Die Pilotkonditionierung, in der bei Gorleben hochradioaktive Brennelemente zersägt und für die Endlagerung verpackt werden sollen, hatten einst beide Koalitionspartner als unsicher und überflüssig angesehen. Die erste Teilerrichtungsgenehmigung wollte der Koalitionsvertrag zurückgenommen sehen. Im Umweltministerium hat man statt dessen zügig die zweite Teilerrichtungsgenehmigung zur Unterschriftsreife gebracht. Inzwischen liegt der fertige Entwurf für diese weitere Genehmigung beim Bundesumweltminister, der sich jüngst die Akten zur Anlage aus Hannover kommen ließ. Selbst beim Endlager Gorleben, für das als einziges Atomprojekt ein Baustopp gilt, erhebt der Ex-Atompolitiker Kempmann Vorwürfe gegen die rot-grünen Polit-Manager. „Das Umweltministerium mußte nach der Sommerpause kurzzeitig entmachtet werden, es bedurfte einer massiven Intervention aus der Staatskanzlei, damit es überhaupt zu einem Baustopp in Gorleben kam.“

Überhaupt ist Umweltministerin Monika Griefahn inzwischen zur koalitionsinternen Lieblingsgegnerin der Grünen avanciert. Kempmann nennt die Ministerin „eine Mogelpackung“. Dückert wirft ihr pauschal vor, sich im Landeskabinett bei allen ökologisch relevanten Entscheidungen, wie über den Bau der Daimler-Benz- Teststrecke bei Papenburg, beim Pipelinebau durchs Wattenmeer und bei der weiteren Vertiefung der Ems, „einfach rausgehalten“ zu haben. Natürlich wollen die Grünen nach der Wahl bei einem guten Abschneiden das Umweltministerium selbst für sich reklamieren. Dann könnten sie freilich nicht mehr die Rolle einer Opposition spielen, hätten sich auf atompolitischem Felde selbst mit dem Bundesumweltminister Töpfer auseinanderzusetzen. Die Basis der Niedersachsen-Grünen hat den Mißerfolg beim Ausstieg längst geschluckt, recht zahm beschloß der letzte Landesparteitag, daß die SPD für eine Fortsetzung des Bündnisses nach der Wahl zur „Koalitionsvereinbarung“ zurückzukehren habe. „Es ist wahr, in der Grünen Partei findet der Aufstand nicht statt“, sagt Thea Dückert.

Dem Bau der Daimler-Benz- Teststrecke bei Papenburg im Emsland würde die Grünen-Fraktionsvorsitzende „heute nicht noch einmal zustimmen“. Diese Entscheidung sei nicht vermittelbar, sie habe den Symbolwert des Projektes einfach unterschätzt. Es war allerdings nicht die so gescholtene Umweltministerin, die die Grünen bei diesem und anderen Projekten zum Gegner hatten. Es war Ministerpräsident Gerhard Schröder selbst, der im Zweifelsfall seine Wirtschaftspolitik allemal gegen ökologische Bedenken des Koalitionspartners durchsetzte.

Die SPD wird die Arbeitsplätze zum zentralen Wahlkampfthema machen. Ein grimmig entschlossener Ministerpräsident inmitten von Arbeitern wird auf Wahlplakaten die Arbeitsplätze zur „Chefsache“ erklären. Von Rücksichten auf den kleinen Koalitionspartner ist Schröder dabei mehr denn je entfernt. Wer den Kampf um Arbeitsplätze behindere, könne weder in Bonn noch in Hannover Koalitionspartner der SPD sein, erklärte Schröder, als die Grünen sich über sein Engagement für den Bau des Eurofighters empörten. Je näher der Wahltag rückte, um so mehr schien Gerhard Schröder solche Konflikte mit den Grünen geradezu zu suchen. Konnte doch jede Auseinandersetzung Rüstung oder Ökologie contra Arbeitsplätze dem erstrebten Image „Retter der Arbeiterklasse“ nur förderlich sein.

Vor vier Jahren waren es die rot-grünen Intellektuellen, die unter dem dadaistischen Titel „Vorwärts nach weit“ eine Wählerinitiative gegründet hatten. Diesmal sind es SPD-nahe Betriebsräte, die als Initiative unter dem Motto „Arbeiter für Gerhard Schröder“ mit dem Ministerpräsidenten in den Wahlkampf ziehen wollen. Wo es nur ging, hat Schröder im Vorwahlkampf auf VW-Betriebsversammlungen zur Viertagewoche gesprochen, die auch sein persönlicher Erfolg ist. Im VW-Werk Stöcken wurde auch die Wählerinitiative gegründet. Da waren Betriebsräte der Meyer-Werft, denen Schröder eine weitere Ausbaggerung der Ems versprochen hat, genauso dabei wie Leute des Dasa- Werks in Lemwerder, für die er den Eurofighter aus der Versenkung holte.

Bei seinem Hauptwahlkampfthema kann Schröder aber nicht nur seinen persönlichen Einsatz für bedrohte Unternehmen ins Feld führen, sondern auch die nüchternen Wirtschaftsdaten der letzten vier Jahre. In den Jahren 1990 bis 1993 ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Niedersachsen um 155.000 oder 6,8 Prozent gestiegen. Im westdeutschen Durchschnitt nahm im gleichen Zeitraum die Zahl der Arbeitsplätze nur um 3,8 Prozent zu. Im vergangenen Jahr hatte Niedersachsen mit 1,4 Prozent den geringsten Verlust an Arbeitsplätzen unter allen Bundesländern zu beklagen. In ganz Westdeutschland schrumpfte die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten dagegen um 2,5 Prozent. Ein stärkeres Wirtschaftswachstum als Niedersachsen hatte in den vergangenen drei Jahren nur Hamburg zu verzeichnen. Auch der Anteil der Netto-Neuverschuldung am Haushalt, der in Bonn in immer neue ungeahnte Höhen wächst, ist von der rot-grünen Landesregierung gegenüber ihrer CDU/FDP-Vorgängerin um zwei Prozentpunkte von 8,4 auf 6,4 Prozent gesenkt worden.

Natürlich sind diese günstigen Wirtschaftsdaten eher Ergebnis der deutsch-deutschen Grenzöffnung als rot-grüner Regierungspolitik. Vor allem auf den Dienstleistungssektor und die Bauindustrie entfallen die Zuwächse an Arbeitsplätzen, aber auch auf die Umweltwirtschaft, die das Land über einen speziellen Ökologiefonds in den vergangenen vier Jahren mit 279 Millionen Mark gefördert hat. In jedem Falle aber strafen die nackten Zahlen im nachhinein jene Lügen, die einst mit einem rot-grünen Wirtschaftschaos gedroht hatten.

Schröder und die SPD können so auf solidem Fundament in einen Wahlkampf ziehen, der vor allem die eigene Stammwählerschaft, aber auch die CDU-Klientel im Auge hat. Die SPD hat die eigenen Wahlversprechen, etwa in puncto der Neueinstellung von Lehrern, weitgehend erfüllen können.

Absolute Mehrheit für die Sozialdemokraten?

Für den Wahltag schließen die Sozialdemokraten inzwischen auch eine eigene absolute Mehrheit nicht mehr aus – bei einem Tiefflug der CDU und dem Sturz der FDP unter die Fünfprozentklausel wäre sie tatsächlich durchaus möglich. Die Grünen, die wieder einmal bei acht Prozent gehandelt werden, hoffen, von jenem rot-grünen Potential zu profitieren, das durch die Wendung der SPD zur Mitte frei wird.

Thea Dückert, grüne Kandidatin für ein drittes klassisches Kabinettsressort, will allerdings nur der Politik treu bleiben, wenn ihre Partei bei den Wahlen kräftig zulegt. Als „rot-grünes Reformprojekt“ will sie die Politik der letzten vier Jahre schon heute nicht mehr bezeichnen. „Dieser hohe Anspruch ist in den Anfängen steckengeblieben“, sagt sie. Das liege auch an den Entscheidungsstrukturen, vor allem am Regierungschef, der allzu vieles an sich sich ziehe.