Chiapas – Land der Wunder und Ketzer

Im Süden Mexikos vertreiben Indianer Mitglieder ihrer eigenen Gemeinschaft  ■ Aus San Cristóbal de las Casas Thomas Schmid

Im nachhinein ist man immer klüger. Doch im vorliegenden Fall hätte man rechtzeitig Vorsorge treffen können. Schon am 29. Dezember nämlich wurden die Augen des hölzernen Jesus Christus in der Seitenkapelle der Kirche von Santa Lucia feucht. Tags darauf waren die Tränen deutlich sichtbar. An Silvester schließlich, einem Freitag, blickte in der kleinen Kirche von San Cristóbal de las Casas im Süden Mexikos den Gläubigen ein völlig verheultes Gesicht entgegen. Am Neujahrstag besetzten einige hundert Guerilleros der „Zapatistischen Befreiungsarmee“ die Stadt.

Weshalb bloß hatte niemand die Zeichen verstanden? War nicht 1902, wenige Tage nachdem die Holzfigur zu flennen begann, der Vulkan Santa Maria ausgebrochen und hatte in der Stadt viel Unheil angerichtet? Hatten nicht die Tränen Jesu Christi 1918 die Grippeepidemie angekündigt, der in San Cristóbal Tausende zum Opfer fielen? Ebenso 1924, als die mexikanische Armee in der Stadt einfiel, oder 1973 vor der großen Überschwemmung oder 1982, bevor der Chichonal so viel Asche ausspuckte, daß es tagsüber stockdunkel wurde. Immer wurden die Einwohner von San Cristóbal de las Casas im mexikanischen Bundesstaat Chiapas rechtzeitig gewarnt.

Auf das Wunder hat La Noticia aufmerksam gemacht, eine lokale Zeitung, die die Guerilla am liebsten umgehend in den neunten Kreis der Hölle schicken möchte. Der Artikel erschien zwar verdächtig spät, erst am 9. Januar. Und die Nachfrage beim Pfarrer des Kirchleins Santa Lucia ergab, daß der Legende nach der Hölzerne nicht weint, sondern Blut schwitzt, und nicht jeweils am letzten Freitag des alten Jahres, sondern am ersten des neuen. Der journalistische Kreuzritter der obskuren Gazette hat schlechte Arbeit geleistet. Doch er weiß, daß die Coletos, wie die Einwohner von San Cristóbal genannt werden, nicht nur gläubig, sondern auch abergläubisch sind, und so spekuliert er eben mit ihren religiösen Gefühlen.

„Ja, die Leute hier sind schrecklich religiös, übertrieben religiös“, bestätigt auch Generalvikar Gonzálo Ituarte, zweiter Mann der Diözese, „und viel zuwenig christlich.“ Der hochbeschäftigte Mann – „ich bin nicht Herr meiner Zeit“ – kümmert sich um Verletzungen der Menschenrechte, um Lebensmittel und Medikamente für die Kriegsgebiete, um Hilfe für die Flüchtlinge und und und.

Sein Vorbild, ein Dominikaner wie er selbst: Fray Bartolome de las Casas, Anwalt der indianischen Bevölkerung der spanischen Kolonie im 16. Jh. Dessen Konterfei blickt gütig von der Wand seines Büros herab. Wie der spanische Mönch damals setzt sich Gonzálo Ituarte heute vor allem für die Indianer ein, so wie auch sein Vorgesetzter: Bischof Samuel Ruiz Garcia, von vielen in einer Mischung aus Ehrfurcht und Zuneigung einfach Don Samuel genannt.

Doch der Vorsteher der Diözese von San Cristóbal de las Casas ist hier keineswegs unumstritten. „Sehen Sie Señor“, meint Manuel Mendez, Besitzer eines großen Souvenir-Geschäfts, in dem vor allem indianisches Kunsthandwerk verkauft wird, „an diesem Krieg sind zwei Seiten schuld: die Regierung in Mexiko-Stadt, die für die Indianer nichts tut, und der Bischof, der sie aufstachelt.“ Für Mendez, dessen Laden zur Zeit schlecht läuft, weil die Touristen ausbleiben, ist Don Samuel schlicht ein Roter. Daß der Gottesmann für die Guerilla Waffen aus Guatemala eingeschmuggelt hat, steht für ihn außer Frage. „Unter seiner weiten Kutte ist viel Platz“, pflichtet ihm seine Frau bei. Der Bischof trägt zwar außerhalb der Kirche Hemd und Hose. Doch das läßt sie als Argument nicht gelten.

Nicht nur bei der Kurie in Rom, der Regierungskamarilla in Mexiko-Stadt und der Geschäftswelt in San Cristóbal de las Casas ist der Bischof unbeliebt. Er hat seine Feinde auch unter den Indianern. Eine alte Geschichte

„Dieser Krieg ist sein Werk“, sagt Domingo López Ruiz, Bürgermeister von San Juan Chamula, einer Gemeinde, 15 Kilometer außerhalb von San Cristóbal, in der es nicht einen einzigen Mestizen oder gar Weißen gibt, „wir werden nicht akzeptieren, daß er unsere Kultur durch den Schmutz zieht.“ An die fünfzig Männer, alle in schwarzen Ponchos und breitrandigen Hüten, verfolgen schweigend das Interview, das ihr oberster Repräsentant auf dem Kirchplatz gibt. „Und wenn Sie wieder in Europa sind“, gibt Domingo López Ruiz dem Journalisten mit auf den Weg, „dann sagen Sie dem Papst, er soll dafür sorgen, daß dieser Herr uns nicht weiter belästigt.“ Der Streit zwischen den Chamula-Indianern und der katholischen Kirche wurzelt tief in der Geschichte und ist doch neueren Datums. 1869 stieß die Indianerin Augustine Gómez Checheb in Tzajahemel in der Nähe von San Juan Chamula auf zwei sprechende Steine. Ihr Priester hielt das Phänomen für eine göttliche Weisung: Die Indianer sollen eine eigene Kirche gründen und die Steine dort als Offenbarung des göttlichen Willens verwahren.

Die Fortsetzung der Geschichte in Kurzform: Ein weißer Priester stahl die Steine, die Chamulas eroberten sie zurück und massakrierten in Rachezügen weiße Plantagenbesitzer, was die Armee auf den Plan rief, wonach Tausende von Indianern auf San Cristóbal marschierten, sich aber wieder friedlich zurückzogen. Die Armee verfolgte die Chamulas daraufhin bis in ihre Dörfer und massakrierte an die 2.000 Indianer.

Am 1. Januar 1994 besetzten einige hundert Indianer San Cristóbal. Nach übereinstimmenden Berichten plünderten sie zwar das Rathaus, benahmen sich aber ansonsten korrekt. Anders als in andern Städten im Hochland von Chiapas gab es hier keine Toten. Die Indianer zogen sich wieder zurück. Erst einen Tag später kam die Armee und setzte zum Gegenschlag an. Wiederholt sich die Geschichte? Seit dem Fund der sprechenden Steine ist San Juan ein Wallfahrtsort der Chamula-Indianer. Ihre Kirche kennt keinen katholischen Ritus und auch kein Evangelium und hat ihre eigenen indianischen Heiligen. Zum Bruch kam es deshalb mit der katholischen Kirche nicht.

Bitterer Streit der Indianer

Erst nachdem 1974 der Gouverneur von Chiapas statt des von den Chamula gewählten katholischen Katechisten Domingo Diaz Gómez den indianischen Kaziken Agustin López Hernández als Bürgermeister von San Juan Chamula einsetzte, kam es zum offenen Konflikt. Die Kirche übte Druck auf die neue Gemeindeführung aus, was der Bürgermeister geschickt ausnutzte, um seine Gemeinde von der römisch-katholischen Kirche abzuspalten.

Die Chamulas schlossen sich der katholisch-orthodoxen Kirche an, einer Sekte, die ein verhinderter Priester, der sich selbst zum Bischof proklamiert hatte, in Tuxtla Gutiérrez, der Hauptstadt von Chiapas, wenige Jahre zuvor gegründet hatte. Seither herrscht bitterer Streit unter den Chamulas. „Wir verlangen Gerechtigkeit“, steht auf einem großen Transparent am Eingang zum „Institut für ländliche Entwicklung und indianische Angelegenheiten“ am Stadtrand von San Cristóbal. Das Gebäude ist seit über fünf Monaten von 578 Chamula-Indianern besetzt. Sie alle wurden im Lauf des vergangenen Jahres von der eigenen Gemeinde aus San Juan Chamula vertrieben. Die Geschichten, die man hier zu hören bekommt, unterscheiden sich nur in den Details. „Als ich mit dem Trinken aufhörte“, erklärt Juan Hernández Eredia, dessen Gesicht noch vom jahrelangen Alkoholgenuß gezeichnet ist, „haben sie mein Haus abgebrannt.“ – „Weil ich evangelisch bin, mußte ich gehen“, sekundiert ein anderer, und sein Nachbar: „Sie haben mich vertrieben, weil ich die Bibel las.“ Die meisten hier sind Pfingstler, Presbyterianer oder Angehörige anderer evangelischer und evangelikaler Konfessionen und Sekten, nur wenige sind katholisch.

Alkoholverzicht, wie ihn alle fundamentalistischen Sekten fordern, bedeutet für den (indianischen) Kaziken der Gemeinde, der den Alkoholhandel kontrolliert und der mit dem heutigen (indianischen) Bürgermeister nicht identisch ist, Einnahmeverlust. Wer evangelisch ist, kauft keine Kerzen für die Kirche und spendet dem indianischen Heiligen kein Pepsi- Cola, dessen Verkauf aber ein überaus einträgliches Geschäft ist.

Den Vertriebenen hilft kein Staat und kein Gott – aber die katholische Kirche. Die Diözese versorgt die evangelischen Brüder, die indianischen Hausbesetzer, mit Lebensmitteln, Kleidern und Geld. Don Samuel, den „roten“ Bischof, haben sie hier in ihr Herz geschlossen oder nehmen ihn zumindest in ihr Gebet auf.

Seit 1974 wurden 30.000 Chamulas vertrieben, etwa 20.000 von ihnen leben in San Cristóbal, wo sie ein Viertel der Bevölkerung ausmachen. Ihre größte Ansiedlung, ein Elendsviertel an einem erodierten Steilhang im Norden der Stadt, heißt „La Hormiga“, und ihr Führer ist Domingo López Angel, der Präsident des „Rats der Indianer vom Hochland des Chiapas“ (CRIACH), der hier mitten unter ihnen wohnt.

Der Regen verwandelt den Weg zu seinem Häuschen in eine Schlammhalde und macht den Aufstieg zu einem ausgesprochen mühsamen Unterfangen. „Ich war früher nicht nur Trinker“, bekennt der Fotograf und Prediger freimütig, „sondern selbst Schnapsbrenner.“ Erst als er auf einer Kaffeeplantage eines deutschen Latifundisten, wo er als Tagelöhner gearbeitet habe, zur „Kirche Gottes“ bekehrt worden sei, habe er sich vom „Posh“, dem lokalen Zuckerrohrfusel, befreien können. „Ja, und so mußte ich San Juan Chamula verlassen.“ Immer wieder habe er das Recht auf Rückkehr und aufs eigene Land gefordert, betont Domingo López.

Doch der Staatsanwalt, auch von der Menschenrechtsorganisation der Diözese Don Samuels auf seine Pflicht hingewiesen, blieb untätig – weil der Bürgermeister von San Juan ein Mann der PRI, der Staatspartei, ist, die Herrschaft derselben vor Ort sichert und ihr auch bei den anstehenden Wahlen die Stimmen seiner Gemeinde zuführen wird.

Am 4. Januar – drei Tage nach der Besetzung San Cristóbals durch die Guerilleros – sei Carlos Rojas, Beauftragter des staatlichen Entwicklungsprogramms „Pronasol“, zu ihm gekommen, berichtet der Führer der vertriebenen Chamulas, um sich zu erkundigen, was man staatlicherseits denn für sie tun könne. Er habe drei Forderungen aufgestellt, sagt Domingo López: erstens das Recht auf Rückkehr der Vertriebenen; zweitens Elektrizität; drittens die Bestrafung der für die Vertreibung verantwortlichen Chamulas. „Immerhin, am 5. Januar hatten wir hier Licht“, schmunzelt er, „wir müssen den Zapatistas dankbar sein.“