: Beiderseitige Skepsis vor Clintons Moskau-Reise
■ Die amerikanische Rußlandpolitik muß sich veränderten Verhältnissen anpassen
Washington (taz) – Auch wenn man ihm im Wahlkampf oft nachsagte, er habe außer Arkansas noch nicht viel gesehen von der Welt – in Moskau ist Bill Clinton schon einmal gewesen, als Student Ende der 60er Jahre. Inzwischen sind Moskau-Besuche politisch sehr viel unverfänglicher geworden, doch das macht die Sache für ihn nicht einfacher. Erst perplex, dann schockiert über das Ergebnis der russischen Parlamentswahlen vom 12. Dezember letzten Jahres und den plötzlichen Aufstieg des Wladimir Schirinowski, versucht Clinton nun, Boris Jelzin den Rücken zu stärken – und sich ein Bild davon zu verschaffen, wie es um die politische Zukunft des russischen Präsidenten bestellt ist.
Aber die Zeiten, in denen der Besuch eines US-Präsidenten RussInnen zum Jubeln gebracht hätten, sind vorbei. Die einstige Euphorie der Russen gegenüber den USA, so schreibt Alexei Pushkov, stellvertretender Chefredakteur der Moscow News, in der jüngsten Ausgabe von Foreign Affairs, sei einer „nüchternen, manchmal skeptischen oder wütenden Stimmung gewichen“.
Skepsis und Wut haben viel mit enttäuschten Erwartungen über die ausgebliebenen Wunder durch westliche Wirtschaftshilfe zu tun – aber auch viel mit der Perzeption zahlreicher Russen, daß Jelzin und vor allem Außenminister Andrei Kozyrev unter dem Pantoffel Washingtons stehen. Das klingt paradox, hört man doch gleichzeitig aus Prag und Warschau, die USA ließen sich ihre Osteuropa-Politik von Moskau diktieren. Doch letztlich sind das zwei diametral entgegengesetzte Verzerrungen derselben US-Politik, die da lautet: Russia First.
Architekt dieser Politik ist der inzwischen zum zweiten Mann im US-Außenministerium aufgestiegene Rußland-Experte Strobe Talbott. Talbott war es, der sich noch vor den russischen Wahlen gegen eine Nato-Aufnahme mittelosteuropäischer Länder gesperrt hatte, um Jelzin nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Talbott war es auch, der die „strategische Allianz“ mit den radikaleren Reformkräften um Vizepremierminister Yegor Gaidar und Außenminister Kozyrev zum zentalen Bestandteil der US-Rußlandpolitik erklärt hatte. Niemand bestreitet dem ehemaligen Kommilitonen Bill Clintons Kompetenz und Engagement. Doch der Spitzname „Prokonsul Strobe“, der ihm mittlerweile in Moskau angehängt wird, macht deutlich, daß man seine uneingeschränkte Unterstützung des radikalen Reformflügels oft als Einmischung empfindet.
Vor diesem Hintergrund gleicht der Clinton-Besuch in Moskau eher einem Gang auf rohen Eiern. Man will Jelzin stärken – und nachholen, was man nach Ansicht von Talbott-KritikerInnen in den USA schon längst hätte tun müssen: mit einem größeren Spektrum russischer Politiker reden und sich hinter den Kulissen nach möglichen Jelzin-Nachfolgern erkundigen. Man will das russische Militär zum Abzug aus Estland und Lettland drängen – und gleichzeitig erste russisch-amerikanische Manöver noch in diesem Jahr planen. Und man will Wladimir Schirinowski ignorieren, nicht aber die Gründe, die ihm 22 Prozent der Stimmen eingebracht haben.
Innerhalb der Clinton-Administration wertet man nach wie vor den Erfolg des Neofaschisten als Protestvotum gegen die sozialen Folgen des ökonomischen Reformprozesses. Unmittelbar nach der Wahl hatten deshalb Clinton und Mitglieder seiner Regierung Kritik an der „Schocktherapie“ geübt. Doch kurz vor Clintons Abreise nach Europa wurde im Weißen Haus die Devise für die Rußland-Politik wieder umformuliert: Nicht „weniger Schock – mehr Therapie“ lautet nun das Motto, sondern: „Je mehr Reformen, desto schneller ist der Schock vorbei.“ Allerdings ist man sich in Washington klar, daß diese Strategie kaum zu verantworten ist, wenn nicht wenigstens ein Minimum an sozialer Absicherung garantiert wird. Bei seinem Besuch in Moskau will Clinton nun konkrete Hilfe für Zielgruppen vorschlagen – zum Beispiel Umschulungs- und Umsiedlungsprogramme für entlassungsbedrohte Bergbauarbeiter oder Staatsdiener.
In den USA ist dieser Ansatz durchaus umstritten. Die Clinton- Administration unterschätze völlig die Eigendynamik eines neuen russischen Nationalismus, kritisiert Paul Globe von der „Carnegie Endowment For International Peace“ in der Washington Post: „Die Regierung hat einen fast marxistischen Glauben daran, daß, wenn erst einmal die Ökonomie in Ordnung ist, auch die Politik stimmen wird.“ Kritiker wie Globe fordern, in der Rußlandpolitik wieder stärker amerikanische und europäische Sicherheitsinteressen in den Vordergrund zu rücken.
Bill Clinton wird sich damit spätestens dann konfrontiert sehen, wenn es im US-Kongreß um weitere Finanzhilfen für Rußland geht. Und für die Tage in Moskau gilt: Der US-Präsident mag viele gute Ideen in der Tasche haben. Die Frage aber, wer das soziale Netz bezahlen soll, kann er noch nicht beantworten. Andrea Böhm
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