Gewalt gegen Behinderte ist alltäglich geworden

■ Noch sind Täter von Halle nicht gefaßt / Politiker und Verbände reagieren empört

Noch immer sucht die Polizei in einer Großfahndung nach den drei Jugendlichen, die am Montag in Halle einer siebzehnjährigen Rollstuhlfahrerin ein Hakenkreuz in die Wange geritzt haben. Die ersten Reaktionen auf die Tat waren durchgängig Betroffenheit und Empörung. Marianne Birthler, Vorstandssprecherin von Bündnis 90/Die Grünen forderte eine Reform des Strafrechts und der Polizei. „Wegschauen und Schweigen sind die Komplizen einer solchen Tat“, sagte Hessens Frauenministerin Ilse Striewitt, SPD. Behinderte müßten stärker integriert werden.

Scharfe Kritik an Gewaltdarstellungen im Fernsehen übte Otto Regenspurger (CSU), Bundesbeauftragter für die Belange der Behinderten. Auslöser für diesen Überfall sei womöglich eine ähnliche Darstellung im Fernsehen gewesen, die kürzlich ausgestrahlt wurde. Auch dort sei einem Opfer ein Hakenkreuz ins Gesicht geschnitten worden.

Die Tat von Halle sorgt für große Aufmerksamkeit, weil sie so grauenvoll ist und weil die Täter eindeutig dem rechtsradikalen Spektrum zuzurechnen sind. Jedoch der erste Fall von Gewalt gegen Behinderte ist es nicht. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte zählte für die vergangenen beiden Jahren über 80 Fälle. In Berlin duschte eine Frau den Sohn ihres Freundes so heiß, daß er an den Vebrühungen starb. In Bremen erhielt die Mutter einer behinderten Tochter Drohanrufe und Bombendrohungen, weil sie sich im Fernsehen über mangelnde Brandschutzvorrichtungen in der Behindertenschule beschwert hatte. Offene Aggressionen gehören mittlerweile zum Alltag für Menschen, die behindert sind. Mitunter enden sie tödlich. Gestern begann vor dem Landgericht Siegen der Prozeß gegen zwei Jugendliche, die einen stark sehbehinderten Rentner mit ihren Stiefeln so traktiert hatten, daß der Mann auf den Stufen des Einkaufszentrum starb. Die Täter wurden nach Hinweisen aus der Skinheadszene gefaßt. Genaue Statistiken über Gewalt gegen Behinderte gibt es kaum. Die Liste der Grausamkeiten ließe sich fortsetzen.

Die Zunahme der Überfälle sei auch eine Folge verfehlter Sozialpolitik, sagte der Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte. „Wer Menschen an den Rand der Gesellschaft drängt, muß sich nicht wundern, wenn Feiglinge in den Schwächsten ihre Opfer suchen.“ Einstimmig fordern die Behindertenverbände, den besonderen Schutz für behinderte Menschen im Grundgesetz festzuschreiben. Genau solch ein Passus steht in der Landesverfassung von Sachsen-Anhalt. Der jungen Frau aus Halle hat dies nichts genützt. Annette Rogalla