Zwischen den Rillen
: Allerletzte Lockerung

■ Ultraspätdadaismus als lose Beat-Messe: Vermischung der Vermischung auf dem Viereralbum „the orb – 93 live“

Daß sich selbst im Mutterland des Pop kein Mensch mehr so recht seiner Tradition verpflichtet fühlt, davon zeugen die wöchentlichen Hitlisten auf MTV: Zuletzt hielt Meat Loaf, der Helmut Kohl des Songwriting, mit gediegener Biker-Sentimentalität die Pole Position über Monate inne. Grunge wird noch in der parodistischen Form Nirvanas – „In Utero“ – als musikalische Bereicherung vermeldet. Irgendwie scheint den Engländern der Stil abhandengekommen zu sein – auch wenn man davon in Deutschland nicht so viel merkt.

In manchen Fällen steckt hinter dieser tiefen Uneigenwilligkeit und Apathie allerdings ein dermaßen intensiver Umgang mit jedem beliebigen Klang als Material, daß das kontinentaleuropäische Hipness-Verständnis eher überrundet scheint. Mit „the orb“ ist es nicht anders: Wenn das vom DJ-Projekt zum Experimentier-Kollektiv ausgewachsene Duo LX Paterson/Kim Weston knapp zweieinhalb Stunden lang diverses Vogelgezwitscher und Gamelan-Chöre, Dub- Disco und Trance, Public Image und dergleichen Enemy, oder gar Cabaret Voltaire und Blonker miteinander durchmischen, dann geschieht das aus Freude an der Bereicherung. Denn mehr ist mehr, und „Weltanschauungen sind Vokabelmischungen“, wie es Walter Serner in sein Manifest der „Letzten Lockerung“ für den Dadaismus schrieb.

Dafür wären nicht unbedingt vier Live-Schallplatten vonnöten gewesen. Doch „the orb“ benutzen den Tonträger wesentlich als Dokument für die diversen Trips, auf denen es die Band nach Glastonbury, Kopenhagen und Tokio verschlagen hat. Dort scheint es überall ähnlich auszusehen und zu klingen: Allein die Bilder von Mondschein, Trockennebel und Stroboskop-Flirren auf dem (Innen-)Cover bezeugen, daß überhaupt etwas stattgefunden hat.

Auf Platte hört sich die lose Beat-Messe wie ungemixte, zumeist rohe Collagen ihrer eigenen Remixe an; die Menge bleibt angewurzelt stumm, wenn das Geblubber von „towers of dub“ nach zehn Minuten endet, der Applaus ist nur ein weiteres Sample-Zitat. Live ist daran nicht mehr die Atmosphäre, sondern die Idee der reproduzierten Reproduktion. Man kann der Band beim Basteln zuschauen. In jedem Fall kommt Stillstand heraus, wenn Paterson ans Mischpult geht.

Dieser eher ungewöhnliche Wunsch nach Ruhe als Tanzersatz fängt Beckett-ähnlich an. Dessen sparsame Lyrik zum Intro von „Plateaus“ blitzt in dem sich wiederholenden Satzfetzen auf, daß man es hier eigentlich „ganz schön“ findet. „Hier“ ist dabei immer auch „somewhere over the rainbow“, im donnernden Klassik-Walhalla einer Metalband oder im Nirgendwo, körperlos wie der Klang des Orb- Sound-Systems überhaupt. Zwischendrin in einem über Minuten vor sich hergeschobenen Techno-Shuffle dann der eingesprochene Satz von den „objective contents of thoughts“ mit anschließendem Sitar-Fade-Out.

Das Cover zumindest mag in diesem voraufgeklärten Ritual- Mischmasch ironisch wirken – wie eine Kombination aus Plüschtierfetischismus und dem ganz realen „Animals“-Sinnbild von Pink Floyd, wobei diesmal statt einem Schwein ein logobildendes Schaf zwischen den Kraftwerktürmen der Battersea- Station fliegt.

Auf diese überaus englische Fährte – den Umgang mit Industriekultur als romantischer Idylle – geschickt, wird die Botschaft der LP grausam. Der einst willkürliche Mittelwellen-Salat des weißen Beatles-Albums zerfließt in ein buntes Rauschen, aus dem auf „Outlands“ die glühende Rede eines Martin Luther King und ein Imam beim Gebet ebenso sporadisch gekoppelt werden, wie amerikanische Fernsehprediger oder die käsigen Befindlichkeitsberichte einer gewissen Rikki (!) Lee Jones. Die Massage ist das Medium, kaum anders als bei U2 via Zoo- TV.

Wäre nicht immer dieser rettende Groove. Er allein baut allmählich Brücken, die auf der letzten LP-Seite wiederum fast Pink-Floydesk mit „a huge ever growing pulsating brain that rules from the centre of the ultraworld“ und einem laxen „loving u“ enden, das vielleicht ehrlicher gemeint ist als alle Prince- Schmeicheleien. Harald Fricke

The orb: 93 live (Inter-Modo; Island)