Postkommunistische Todestrinker

■ Methyl-Showdown aus dem Untergrund der Perestroika: Die deutsche Erstaufführung von Wenedikt Jerofejews „Walpurgisnacht“ in Mannheim

Wenn Gurewitsch, ein jüdischer Russe, Gelegenheitsarbeiter und begnadeter Trinker, in die Aufnahmestation der psychiatrischen Anstalt eingeliefert wird, spricht er in fünfhebigen Jamben. Er versteckt sich hinter grotesken Wortspielen und verwirrt den Oberarzt, weil das alles so poetisch klingt, als stehe der Handwerksbursche aus Büchners „Woyzeck“ (jener Wanderer, gelehnt an den Strom der Zeit) höchstpersönlich da.

Die Büchner-Parallele kommt nicht von ungefähr. Etwas später, wenn Gurewitsch vom schnieken und brutalen Oberaufseher zum ersten Mal verprügelt worden ist (und ins Zimmer mit dem Zimmerältesten Prochorow verfrachtet wird), sind dort noch andere Handwerksburschen, Bauern und Poeten aus den Weiten der zerfallenden sowjetischen Großmacht interniert. Wenedikt Jerofejews „Walpurgisnacht“ ist eine russische Kuckucksnest-Variante und könnte starke theatralische Qualitäten haben.

Das Problem des Stückes allerdings liegt darin, daß die Insassen der geschlossenen Abteilung allesamt wie Ausformungen des Autors wirken, wie poetische Wortkaskadeure, die jenseits von Gut und Böse nur noch ein Problem haben: Sie wissen zu viel und wollen in jedem Satz eine Anspielung verstecken.

Ein hartes Stück Brot für Hans- Ulrich Becker, einen der derzeit interessantesten jungen Regisseure. Mit der deutschen Erstaufführung der „Walpurgisnacht“ hat er den dritten dramatischen Erstling in Reihe inszeniert: Nach Tschechows „Platonow“ und einer grandiosen Inszenierung von Kleists „Familie Schroffenstein“ jetzt dieses wie ein Patchwork gefügte Stück, das in bezug auf poetische Ausdruckskraft seinesgleichen sucht, sich aber auch in ein dramatisches Nirwana aufzulösen droht. Vor allem der zweite Akt, wenn der Neuzugang Gurewitsch seine Zimmergenossen kennenlernt, ist problematisch: Man sieht Beckers Inszenierung die Mühe an, die auseinanderfliegenden Textteile atmosphärisch wieder einzufangen. Es gelingt ihm nur, weil er detailgenaue Studien der einzelnen Typen erabeitet hat, allen voran Aljocha, der Schildknappe des streng regierenden Zimmerältesten, der wie ein verlorener Junge im Raum steht, um sofort zum dämonisch grinsenden Sadisten zu werden. Oder Prochorow, der lautstark und brutal die Ordnung im Zimmer aufrechterhält, aber zum zärtlichen Familienvater werden will, sollte einem seiner Schäfchen etwas zustoßen. Und das alles in einem großen, kränklich gelb gekachelten Schwimmbassinraum, in dem Schläuche von der Decke hängen und in dem es tropft, als sei man in einen Film von Tarkowski geraten. In den letzten beiden Akten, wenn Gurewitsch zum Zimmerchef aufgestiegen ist und aufgrund seiner innigen Bekanntschaft mit einer Krankenschwester Alkohol organisiert hat, wird Jerofejews „Walpurgisnacht“ spielbarer – und die Inszenierung zu einer gelungenen Travestie christlicher Heilslehre. Keiner außer Gurewitsch weiß, daß sie Methylalkohol trinken und jeder irgendwann die Todesdosis intus hat.

In Mannheim wird beim abschließenden Methyl-Showdown aus Gurewitsch ein sardonischer Christus, der die Unterhose zum messianischen Lendenschurz schnürt, die zwangsverwahrten Psychiatriepoeten in den gelobten Selbstmord führt, dabei in einschlägigen Segnungs- und Kreuzigungsposen verharrt (natürlich darf auch da Vincis „Abendmahl“ nicht fehlen) und jedem der Todestrinker eine Aufgabe stellt. Jerjomin, dem klaustrophobischen Muttermörder, wird ein besonders perfides Kunststück abverlangt: Gurewitsch stellt das Alkoholglas auf das Ende einer Planke, freischwebend über dem Bassin. Auf dem anderen Ende der Planke steht Jerjomin, wie ein Ertrinkender in der Wüste, das rettende Glas vor sich, ohne es erreichen zu können. Ein Balanceakt, wie die Inszenierung selbst.

Berühmt wurde Wenedikt Jerofejew mit seinem Prosaband „Die Reise nach Petuschki“. Die „Walpurgisnacht“, sein erstes und einziges Stück, hat er Mitte der achtziger Jahre geschrieben, übersetzt und im Westen abgedruckt wurde es 1990 in der Literaturzeitschrift Lettre. Es ist gespickt mit Nationalismen und antisemitischen Passagen, Jerofejew hat also schon relativ früh den chauvinistisch brodelnden Untergrund der Perestroika-Sowjetunion thematisiert. Was Becker verstärkt, indem er die Arme seiner Methylalkoholiker immer wieder wie aus Versehen zum Hitlergruß hochzucken läßt.

Am Ende dann proben sie Welttheater und leben großrussische Phantasien aus, was sich tatsächlich so anhört, als habe Jerofejew geahnt, daß im postkommunistischen Rußland auch Figuren wie Schirinowski wieder die Bühne betreten dürfen. Becker und sein Dramaturg haben folgerichtig Redefetzen des rechtsradikalen Demagogen in den Text eingebaut: Der Muttermörder Jerjomin etwa persifliert Schirinowskis Weltmachtswahn vom russischen Soldaten, der in leichter Sommeruniform seine Füße im Indischen Ozean badet, indem er sich jauchzend seiner Anstaltsuniform entledigt. Gurewitsch bleibt auch in dieser Passage der große Zeremonienmeister der Methylorgie, der mit wachsendem Alkoholkonsum einen immer klareren Kopf bekommt.

Er ist das Alter ego des Autors Jerofejew, der sein bizarres Stück aufgrund einer Wette geschrieben hat und für jede Seite eine Flasche Wodka bekam. Gestorben ist er vor drei Jahren, seine Leber hielt dem Ansturm des Alkohols nicht mehr stand. Jürgen Berger

Wenedikt Jerofejew: „Walpurgisnacht oder die Schritte des Komturs“. Regie: Hans-Ulrich Becker. Dramaturgie: Henrik Bien. Bühne: Alexander Müller-Elmau. Mit Rainer Bock, Marcus Calvin, Roland Bayer, Max Grashof, Susanne Häusler u.a. Nationaltheater Mannheim. Weitere Aufführungen: 15., 16., 19., 20., 21., 25.1.