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Als die Zapatisten kamen

Die mexikanischen Guerilleros haben sich in den Urwald zurückgezogen: Eine Reise durch das Kriegsgebiet von Chiapas  ■ Aus San Cristóbal de las Casas Thomas Schmid

Im Süden Mexikos haben die Militärs eine neue Offensive gestartet – eine Offensive der Freundlichkeit. Am Montag hatte der mexikanische Präsident Carlos Salinas den Innenminister ausgewechselt, am Dienstag waren in San Cristóbal de las Casas die Schützenpanzer vom Hauptplatz abgezogen. Am Mittwoch schließlich wurden im Hochland von Chiapas die Straßen, die über eine Woche lang militärisch gesperrt waren, wieder freigegeben. Zwar gibt es am Ortsausgang von San Cristóbal noch einen Kontrollpunkt. Doch die Aufschrift Prensa (Presse) auf der Windschutzscheibe garantiert freie Fahrt.

Vorbei an Rancho Nuevo, dem Sitz der regionalen Militärkommandatur, der noch am Dienstag von Guerilleros der „Zapatistischen Befreiungsarmee“ (EZLN) angegriffen wurde, vorbei an einem ausgebrannten Autobus mit zerschossenen Fenstern und platten Reifen, erreicht man zehn Kilometer außerhalb der Stadt das Gefängnis. Das Tor steht offen. Der Boden des großen Raumes, in dem zu anderen Zeiten die Ankömmlinge registriert werden, ist mit Hunderten von Aktenmappen übersät. Mitten im Dreck liegt das in polizeilicher Sprache und juristischen Floskeln abgefaßte Curriculum von Mördern, Räubern, Vergewaltigern, Zuhältern, Dieben und Hehlern. An einer großen Tafel ist die letzte Bestandsaufnahme festgehalten: 179 Häftlinge. Männer: 173, Frauen: 6, im Vollzug: 51, in Untersuchungshaft: 128. In einem großen Buch ist jedem der 179 Knackis eine Seite gewidmet, Foto und Fingerabdruck inbegriffen. Mit eiliger Schrift steht neben jedem Namen: Preliberado. Basta! – „Vorzeitig entlassen. Es reicht!“ Etwa 300 Guerilleros hatten am 2. Januar um sieben Uhr früh das Gefängnis gestürmt und alle 179 Gefangenen befreit. Nun steht das Gebäude leer und unbewacht in der Landschaft.

Nach einer Fahrt durch romantische Pinienwälder – hin und wieder kreuzen Indianer mit weißen Fahnen die Straße – liegt unverhofft ein kleines Dorf in einer Talmulde. Es ist Huixtan, seit Jahrzehnten im Ruf, die besten Pistoleros von Chiapas hervorzubringen. Doch davon wollen die Bewohner heute nichts mehr hören. Sie haben die Schnauze voll von Gewalt und Krieg. Vor allem, weil sie nun schon seit Tagen von der Elektrizität abgeschnitten sind und seit einer Woche keine Nahrungsmittel mehr eintreffen. Man lebt von den Reserven. Am 2. Januar, zwei Stunden nach Mitternacht kamen die Zapatisten ins Dorf und weckten alle Leute auf, doch kaum einer traute sich auf die Straße. „Sie redeten mit uns in unserer Sprache“, berichtet ein Tzotzil-Indianer, „aber wir hatten trotzdem Angst, es war dunkel, wir kannten sie ja nicht, und sie waren bewaffnet.“ Drei Tage lang seien die Guerilleros geblieben, berichtet Roberto Ozuno Ramos, Schüler des Priesterseminars. Wie die Frau, die ihr kleines Mädchen laust, wie die Lehrerin, die zur Zeit zwangsbeurlaubt ist, wie die Männer vor der Kirche bestätigt auch er, daß sich die Zapatisten korrekt benommen hätten. Nein, sie hätten niemanden bedroht, nichts geklaut, seien, lange bevor die Armee am Horizont aufgetaucht sei, wieder friedlich abgezogen.

Im nächsten Ort, der Kleinstadt Oxchuc, leben neben Mestizen vor allem Tzeltal-Indianer. Die Frau im kleinen Lebensmittelladen ist sauer. Ihren Sohn hätten die Zapatisten zwangsrekrutiert, behauptet sie, doch nach einem Tag habe er wieder vor der Tür gestanden. Der 17jährige ist zwar zu Hause. Doch die Mutter will nicht, daß er mit Fremden redet. Offenbar haben ihn die 150 Guerilleros, fast alle Tzeltal-Indianer, bei der Requirierung von sieben Autos und Kleinlastern gleich als Chauffeur mitrequiriert. Fünf Fahrzeuge lieferten sie zwar am folgenden Tag wieder ab. Doch die Zwangsmaßnahme hatte zur spontanen Bildung einer „indianischen Selbstverteidigung“ geführt, die vier Guerilleros festnahm. Anders aber als die Presse berichtet habe, seien die Festgenommenen nicht geprügelt und auch nicht der Armee ausgeliefert worden, erzählt der Lehrer Jorge Santos. Die habe man zwar gerufen, aber sie sei nicht gekommen.

Die Presse hatte außerdem berichtet, 40 junge Männer seien zur Guerilla übergelaufen. Nachfrage vor Ort fördert einen andern Sachverhalt zutage. In der örtlichen Sektion der Staatspartei PRI gibt es schon seit 1985 zwei sich heftig befehdende Fraktionen, wobei die herrschende, die auch die Mitglieder der Stadtverwaltung stellt, sich immer wieder sogenannter charros, Schläger, bediente. Als die Zapatisten die Stadt besetzten, schlossen sich ihnen tatsächlich 40 Mitglieder der Minderheitsfraktion an, die sich vor allem aus Lehrern zusammensetzt und „Zivilvereinigung“ nennt. Zusammen mit den Guerilleros fackelten sie das Bürgermeisteramt und die Privatwohnungen einiger lokaler PRI- Größen ab. Als sich die Zapatisten wieder in die Berge zurückzogen, blieben die 40 in der Stadt zurück. Seither halten sie sich versteckt. In Oxchuc hätten sich die Guerilleros von diesen Übergriffen abgesehen korrekt benommen, berichten die Einwohner übereinstimmend.

In Oxchuc hatte es weiter geheißen, in Tosvilja hätten sich einige Zapatisten verschanzt. Zum Weiler führt eine steinige Nebenstraße. Doch schon nach drei Kilometern versperren gefällte Bäume den Weg. Etwa nach einer halben Stunde Fußmarsch, der über eine ganze Reihe weiterer Barrikaden hinwegführt, erreicht man Tosvilja. Frauen und Kinder, alles Tzeltal-Indianer, verstecken sich beim Anblick der Fremden sofort in ihren Hütten. Vor dem Schulhaus steht eine Gruppe schweigender Männer. Ohne danach gefragt worden zu sein, berichtet schließlich ihr Anführer, die Zapatisten seien nicht hier gewesen, man sei nicht bewaffnet und die Barrikaden habe man nur errichtet, „um Fremde daran zu hindern, uns töten zu kommen“. Seltsamerweise wissen die Männer nicht, wo der Bürgermeister wohnt, seltsamerweise weigern sie sich fotografiert zu werden, und am seltsamsten: Sie bereiten auf einem großen Platz gemeinsam eine Gemüsesuppe zu. Hier auf dem Land kochen ansonsten ausschließlich die Frauen, und dies zu Hause. Es sind, wie sich später im Gespräch mit einem Bauern herausstellt, Angehörige der „Zivilvereinigung“, PRI-Mitglieder, die mit den Zapatisten gemeinsame Sache gemacht haben.

Vorbei an Bananenpflanzungen und Kaffeesträuchern führt die Straße nach Altamirano hinunter. Die Stadt liegt am Rand des Urwalds, in den sich die „Zapatistische Befreiungsarmee“ zurückgezogen hat, und gleicht einem Armeelager. Überall Soldaten, Militärlaster und Schützenpanzer. Vor dem zerstörten Bürgermeisteramt verteilt das Militär Lebensmittel. Ehepaar für Ehepaar erhält eine große Plastiktüte mit zwei Litern Öl, schwarzen Bohnen, Reis, Trockenmilch, Nudeln und Fischkonserven. Weshalb Frauen, die allein ankommen, nichts erhalten, kann niemand erklären. Geht man davon aus, daß ihre Männer bei den Zapatisten kämpfen? Die sind am Neujahrstag um sechs Uhr früh gekommen, haben fünf Polizisten erschossen und einige weitere mitgenommen. Viele Leute hatten schreckliche Angst. Aber alle bestätigen, daß sich die Guerilleros der Zivilbevölkerung gegenüber korrekt benommen hätten.

Auch die Nonnen, die am Stadtrand ein Krankenhaus führen, beklagen sich nicht. Sie haben nicht nur drei verletzte Soldaten kuriert, sondern auch neun verwundete Zapatisten. Daher wurden sie beschuldigt, mit den „Gesetzesüberschreitern“ – so der gängige offizielle Ausdruck für Guerilleros – gemeinsame Sache gemacht zu haben. Die Militärs suchten das Krankenhaus auf. Doch die Zapatisten hatten ihre Verwundeten bereits abgeholt und in den Urwald mitgenommen. „Sie wußten“, sagt Schwester Clara in gütigem, freundlichen Ton, „daß das auch ihr Krankenhaus ist.“

Vorbei an Oxchuc, vorbei an Huixtan, vorbei an Dutzenden weiß beflaggten, einzeln stehenden Häusern, vorbei am inzwischen wieder bewachten Gefängnis, vorbei an Rancho Nuevo taucht nach einer kleinen Anhöhe unvermittelt wieder San Cristóbal de las Casas auf. Die Straßenlaternen brennen, der Verkehr stockt, die Militärs sind aus der Innenstadt verschwunden. Wären nicht die vielen Kriegsreporter, einige sogar in schußsicherer Weste – man könnte sich im Frieden wähnen.

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