DGB: Ein schwindsüchtiger Riese

Abwärtstrend der Mitgliederzahlen bei den Gewerkschaften setzte sich 1993 fort / Zehn Prozent Personalabbau geplant / Beschäftigungssicherung hat bei Tarifpolitik Priorität  ■ Aus Düsseldorf W. Jakobs

Die Talfahrt des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) geht weiter. Nach dramatischen Mitgliederverlusten im Jahr 1992 gaben auch im letzten Jahr Hunderttausende Gewerkschaftsmitglieder ihr Mitgliedsbuch zurück. Der Schwund – Ende 1992 zählte der DGB noch 11.015.612 Mitglieder – hat sich aber nach den Worten des DGB-Vorsitzenden Heinz-Werner Meyer 1993 „deutlich abgeflacht“. Genaue Zahlen lagen Meyer während seiner Neujahrspressekonferenz am Mittwochabend noch nicht vor.

Eine Umfrage der taz bei den großen Einzelgewerkschaften bestätigt den Abwärtstrend. Die größte Einzelgewerkschaft der Welt, die IG Metall, büßte im vergangenen Jahr allein rund 178.000 Mitglieder ein – 94.000 davon in Ostdeutschland. Von 3.625.428 (1991) Mitgliedern schrumpfte die IG Metall innerhalb von zwei Jahren auf 3.216.582. Während es der ÖTV-Zentrale in Stuttgart noch an einer kompletten Übersicht mangelt – in den Keller weisen die Zahlen auch dort –, weiß die IG Chemie von rund 40.000 ihrer 818.832 (1992) Mitglieder zu berichten, die der Gewerkschaft den Rücken kehrten. Um rund 47.000 Beitragzahler schrumpfte die HBV. 40.000 davon gingen im Osten verloren.

Für die HBV, die nach der deutschen Vereinigung ihr Personal von 600 auf über 1.000 Angestellte erhöht hatte, wächst sich der Schwund inzwischen zu einem Desaster aus. Als erste Gewerkschaft im DGB sah sich die HBV gezwungen, Beschäftigte zu entlassen. Durch das Beitragsaufkommen der jetzt noch 583.787 HBV- Mitglieder läßt sich der infolge gravierender Fehleinschätzungen seitens der HBV-Führung völlig überdimensionierte Apparat nicht mehr finanzieren.

Im ersten Halbjahr 1993 verlor die IG Bergbau und Energie 21.000 ihrer 457.239 Mitglieder. Dramatisch entwickelt sich die Fluchtbewegung bei den Rentnern. Seit dem letzten IGBE-Kongreß im September 1993 kehrten 8.000 von ihnen ihrer Organisation den Rücken – aus Wut über eine Beitragserhöhung. Statt fünf Mark müssen die IGBE-Rentner nun 0,4 Prozent der Bruttorente zahlen. Bei 3.000 Mark macht das 12 Mark. Reaktion: Massenaustritt. Der Frust vieler Bergleute über das Agieren der IGBE-Führung während der letzten wilden Streiks und Straßenblockaden schlug sich dagegen kaum in der Mitgliederstatistik nieder. Zwar wurden zum Beispiel auf der Bergkamener Zeche Monopol aus Zorn über die Führung einige Gewerkschaftsbücher vor laufenden Kameras verbrannt, aber mehr als eine Handvoll Kumpel traten am Ende doch nicht aus.

Der DGB will auf die Mindereinnahmen mit einem drastischen Personalabbau reagieren. In den nächsten zwei Jahren soll die Beschäftigtenzahl um zehn Prozent sinken – rund 65 Prozent des 312-Millionen-Mark-Etats gehen für Personalausgaben drauf. DGB-Chef Meyer „hofft, daß wir das ohne Kündigungen bewältigen können“. Im Rahmen des noch nicht endgültig verabschiedeten Sparkonzeptes soll die Organisation „verschlankt“ und das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) des DGB der Hans-Böckler-Stiftung eingegliedert werden. An der Auflösung des WSI als eigenständiges Forschungsinstitut will DGB-Chef Meyer trotz zahlreicher Proteste gewerkschaftsnaher Wissenschaftler festhalten.

Von einer härteren, radikaleren Gangart als gewerkschaftliche Antwort auf die Krise hält Meyer nichts. Die von einigen Betriebsratsvorsitzenden aus dem Revier in einen Brief an den DGB-Chef geforderte „gemeinsame Aktion“ aller Gewerkschaften, etwa nach dem Muster des Generalstreiks in Belgien, wird es nicht geben. Zwar wolle der DGB die Arbeitsplatzsicherung zum zentralen Thema des neuen Jahres machen, sagte Meyer am Mittwoch, doch wie das geschehen soll, ließ er offen. Nur eins ist sicher: So wie im vergangenen Herbst geht es nicht. Die vom DGB initiierte „Aktion Gegenwehr“ war ein Flop. Kaum jemand hat davon etwas bemerkt. Damit, so räumt auch Meyer ein, „haben wir die Mitglieder offenbar nicht erreicht“. Wenn es nicht zu einem gemeinsamen Massenprotest kommt, sehen die Betriebsratsvorsitzenden schwarz. Vereinzelte Protestaktionen, so ihre Befürchtung, erzeugen „keine nachhaltige Wirkung. Im Gegenteil scheint sich die Bundesregierung darüber halb totzulachen“.