Nix los! Haben wir das verdient?

■ Ein kurzer Blick über die Schulter oder: Die "Gläserne Redaktion" der "Bild"-Zeitung

Ein Wallraff war genug. Jetzt kommt Bild zu Ihnen. Seit Jahresbeginn haben die Springerschen Blut- und Busen-Dichter im Europacenter am Breitscheidplatz „Die Gläserne Redaktion“ installiert. Bis Ende Februar wird so die Gosse täglich in die Einkaufspassage verlegt. In einem Kasten, der nur an einer Seite durchsichtig ist, hocken von 9 bis 19 Uhr abwechselnd Corinna Zell (Lokalredation) und Stefanie Brauner (Kulturressort).

Was dem Hamster das Laufrad, ist ihnen das Laufwerk. Die Basisausstattung einer üblichen Redaktion ist vorhanden: Personalcomputer, Topfpalmen, Fax, Kaffeemaschine, Drucker, Telefon. Aber los ist hier nix. Obwohl gegen 17 Uhr in jeder Zeitung höchste Produktionszeit ist und in diesem Fall rundherum auch noch verkaufsoffener Donnerstag. Eine Hospitantin zerliest Zeitschriften, Stefanie Brauner telefoniert vor leerem Bildschirm. Kein Hauch von „Kir Royal“. Kein Baby Schimmerlos. Keine Anna Marx.

Der Sicherheitsfuzzi vorm Glaskasten trippelt gelangweilt von einem Fuß auf den anderen, denn am Tresen will keiner die ausliegenden Bild-Zeitungen lesen. Am Tisch daneben, wo „Prominente und Fachleute aus allen Bereichen“ den Bild-Lesern „Rede und Antwort stehen“, hockt ein Six- Pack alter und junger Kerle um den „Traberchampion“ Michael Hönemann (ohne Pferd und Sulky) herum. Fachsimpeln über Plastikbechern.

„An den Tisch wird sich wohl keine Frau mehr dransetzen“, konstatiert Redakteurin Brauner realistisch-ratlos. Aber nachmittags sind eben die Sportler dran. Die Vormittagsgäste sind da schon frauengemäßer: Bei Schauspieler Herbert Herrmann, im Ku'damm Theater und in TV-Serien trotz Midlife-Alter auf den jungen Liebhaber abonniert, sei mehr los gewesen. 20 bis 60 Leute, so Brauner, werden jeden Tag angezogen von Stars wie dem abgehalfterten Lügenbaron Wolfgang Spier oder der „Dame vom Grill“, Brigitte Mira.

Außer diesen Autogrammstunden geht es in der etwa fünf Quadratmeter großen „Gläsernen Redaktion“ natürlich auch um die harten Fakten des Lebens, um „Bürgernähe“ und „Alltagsprobleme“. Brauner: „Hier sollen die Bürger ihre Probleme loswerden und uns über die Schulter sehen.“ Wer noch mehr Dampf ablassen will, kann das auch auf Postkarten von Dudelfunk Radio Hundert,6 tun, die am Bild-Stand ausliegen. Motto: „Jetzt redet Berlin mit: 1994 – Mut zur Wahrheit.“

Für heiße Stories haben die Bürger in der „Außenstelle“ der Bild allerdings noch nicht gesorgt, wie die Redakteurin zugibt. Trotzdem muß jeden Tag ein kleiner Artikel aus dem Europacenter ins Blatt gedrückt werden. Gestern morgen war's ein Dreispalter über die Schauspielerin Brigitte Grothum, die ihre „Pudeldame Xenia“ mit an den Bild-Stand gebracht hatte und dort „die Hausaufgaben ihres jüngsten Fans, Andreas Habermann (14) korrigierte“.

In der „Gläsernen Redaktion“ warten Corinna Zell und Stefanie Brauner weiter auf potentielle Aufmachergeschichten. Wer etwas zu enthüllen hat, melde sich unter 264 08 42 oder 264 07 42. Hans-Hermann Kotte