Der Knotentest von Sindelfingen

Geheimhaltung gehört zum Ehrenkodex: Auf dem „Magic Hands“-Kongreß verzaubert Thomas Salvano, Magier der alten Schule, das Publikum / Zauberei boomt als Freizeitbeschäftigung  ■ Aus Sindelfingen Heide Platen

Im Foyer der Sindelfinger Stadthalle stehen zwei Männer in einer Ecke. Sie haben dicke weiße Stricke an die Türgriffe gebunden und knoten sie immer wieder neu zusammen, ein kurzer Zug hier, ein Ruck dort: „Verflixt, das klappt noch nicht!“ „Zieh ein bißchen mehr hier“, rät der andere fachmännisch, „dann müßte es gehen.“ Und wirklich, wie von Geisterhand bewegt, fallen die Knoten auf einmal ganz von alleine auseinander. Und darum geht es auch beim viertägigen 17. Kongreß „The Magic Hands“, zu dem sich am Donnerstag schon über 900 Amateure, Semiprofis und richtige Zauberer angemeldet hatten. Am Tisch nebenan zeigen sich Timm aus Hamburg und Udo aus Kleve gegenseitig, mit welcher Fingerfertigkeit sie Spielkarten verschwinden und aus der leeren Luft, gerade hinter dem Ohr des Gegenübers, wieder hervorzaubern können. Die Amateure haben ihren Spaß.

Die Zauberei boomt in Deutschland. Und das nicht erst, seit David Copperfield in überfüllten Veranstaltungssälen durch die Lüfte schwebte. Der Illusionist aus dem fernen Amerika aber ist es nicht so sehr, der die angehenden Magier ärgert, sondern es sind viel mehr die Gabelverbieger vom Kaliber eines Uri Geller, die die Zunft, meinen sie, so sehr in Verruf bringen. Mit ihren spektakulären Auftritten verderben sie, so der Pressesprecher von „The Magic Hands“, Joachim Schenkel, den Spaß an Spiel, Imagination und, vor allem, an der Geschicklichkeit und dem handwerklichen Können wahrer Zauberkünstler.

Daß „The Magic Hands“, eines der größten Versandhäuser für Zauberartikel mit internationalen Kunden, nicht im fernen Indien der Tempeltricks und Fakire, im Arabien der Märchenerzähler oder in den wundersüchtigen USA angesiedelt ist, sondern ausgerechnet in Böblingen, liegt an Günther Thumm. Der im Alltag etwas unscheinbare, gemütliche ältere Herr begnügte sich nicht damit, das Gerät für die Zaubertricks anzubieten und zu verkaufen. Unermüdlich entwickelt er das Angebot weiter. Und der Chef zaubert selbst. Am liebsten sind ihm, sagt er bei einer didaktischen Vorführung, die Tricks mit der Sektflasche. Die pufft und knallt, verschwindet in glitzernden Röhren, zwischen bunten Tüchern, in einem Luftballon, taucht unvermittelt wieder auf und enthält tatsächlich eine sprudelnde Flüssigkeit. Den meisten Effekt mache es, sagt Thumm, wenn er den Sekt, wohlschmeckend echt und sprudelnd, während der Vorführung auch noch dem Publikum serviert: tatsächlicher Sekt aus einer tatsächlichen Flasche macht die Illusion erst komplett. Um so größer ist die Überraschung, wenn die Flasche dann wieder in einer flachen Schachtel verschwindet, in die sie eigentlich unmöglich hineinpassen kann, plötzlich zusammen mit 30 Meter buntem Seidenband, einem üppigen Federbusch oder Papierblumenstrauß auftaucht.

Günther Thumm ist ein strenger Lehrer mit freundlicher Stimme. Manchmal geht aber auch ihm etwas daneben. Da flattert doch tatsächlich ein Fetzlein des Tuches über die Bühne, das das Zerschneiden in der Röhre eigentlich unbeschadet überstehen sollte. Wie gut, daß diese Nummer nicht die „Zersägte Jungfrau“ war. Dann geht es besser. Da wird demonstriert wie beim Militär: „Rechte Ecke in die linke Hand, Drehung um 40 Grad, zweite und dritte Ecke in...“ Und schon ist eine „Blendung“ gelungen. „Blendung“ nennen die Experten, doziert Thumm, jene Vorführungen, bei denen „sich etwas verfärbt oder zusammengefügt wird“, zum Beispiel vier Tücher, die mit einem Flattern zu einem einzigen werden. Schnelligkeit ist eben keine Hexerei. Die Vorbereitungen sind beeindruckend aufwendig und erfordern sorgfältigste, geduldige Fältelei: „Laden und Präsentieren.“ Warum so viele Zauberer eine Vorliebe für Seidentücher haben? Thumm schwärmt: „Seide ist ein Naturprodukt. Es erholt sich an der frischen Luft und wird mit ein paar Millionen feiner Gebrauchsfalten erst richtig fertig.“

Publikumsbeteiligung ist gefragt. Die Fähigkeit, die Zuschauer dazu zu bringen, unterbewußt das zu tun, was für den Trick gerade notwendig ist, ist eine ganz eigene Qualifikation. Das wird in Extra- Seminaren gelehrt und heißt in der Fachsprache „Forcieren“. Dazu gehört auch, unauffällig Wahrnehmungen zu suggerieren oder Handlungen durch das Tempo des Geschehens in die gewünschte Richtung zu lenken. Da sieht auch ein angehender Kollege alt aus. Er muß sich bei einem Knotentrick sagen lassen: „Sie hören ja gar nicht erst zu.“ Überhaupt, stellt Thumm fest, fragen die Leute, die etwas fest verknoten, was er dann wieder auflöst, immer: „Einen normalen Knoten?“ Das sei eine Frage der Analyse des Knotenverlaufs, denn: „Es gibt keine abnormalen Knoten. Ein Knoten besteht im Prinzip aus zwei Windungen.“ Und der Trick, bei dem drei ineinander verschlungene Tücher trotz fester Publikumsknoten wieder auseinanderfallen, der geht ohnehin ganz anders.

Verraten wird nichts. Der Magische Zirkel, in dem sich deutsche Zauberer organisiert haben, hat strenge Regeln. Aspiranten müssen sich mit eigenen Tricks einer Aufnahmeprüfung unterziehen. Sie verpflichten sich, nichts, aber aber gar nichts von ihrem Können an Außenstehende zu verraten. Andernfalls droht ihnen der Ausschluß. Das bringt Pressesprecher Schenkel in arge Verlegenheit. Er und seine Kollegen bewachen die angereisten Journalisten wie die Luchse. Gefilmt werden darf nur unter Aufsicht.

Diese Verschwiegenheit ist so alt wie die Zauberei. Schamanen beschworen die Natur, Medizinmänner und Zauberer versuchten in allen Religionen, die Geister von Krankheit und Naturgewalt zu bannen und Götter zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Zauberbücher und verschworene Gemeinschaften gab es bei den Assyrern, Ägyptern, in der Antike, bei Juden und Christen. Das Geheimnis gehörte untrennbar zur Wirksamkeit. Die mittelalterliche Gaukelei und der Thespiskarren der Schauspieler auf Märkten und Plätzen, Commedia dell'arte und katholisches Barockdrama, Moritat und Bänkelgesang gehören zusammen mit den Zauberern in eine Tradition: Menschen staunen zu lassen. Das sieht die christliche Religionswissenschaft anders. Sie unterscheidet streng zwischen religiöser und profaner Magie und bekämpft letztere als Aberglaube. Darin unterscheidet sie sich allerdings mittlerweile von der modernen Völkerkunde, die die Übergänge als fließend begreift.

Die Traumdeuter, Magier und Weisen, die keltischen Zauberer sind im Zeitalter der Aufklärung vorübergehend verschwunden gewesen. Ihre Reinkarnation betrachten auch die Hobby-Zauberer in Sindelfingen eher mit Mißtrauen. Mit „Spökenkiekern“, falschen Magiern, Beutelschneidern und Bauernfängern möchten sie nicht verwechselt werden. Sie betonen immer wieder, daß ihr Metier harte Arbeit und viel Training erfordert. In einem öffentlich nicht erwerbbaren Bändchen mit dem Titel „Bauernfänger“ setzen sich drei von ihnen mit Kartentricks und Hütchenspiel auseinander. Das Hütchenspiel, ursprünglich mit drei Walnußschalen und einer Erbse gespielt, ist alt und gehört zum Standardrepertoire für Zauberlehrlinge. Es erfordert Geschicklichkeit und basiert ohne Frage darauf, geschickt falsch zu spielen. Die Autoren wenden sich deshalb auch gegen Gerichtsurteile, die es entweder als verbotenes Glücksspiel oder als Geschicklichkeitsspiel einstufen. Es zähle gerade nicht die Schnelligkeit des Spielers, sondern eher seine lässige Langsamkeit, mit der er potentiellen Opfern suggeriert, sie hätten eine Chance. Das aber sei ihrer strengen Meinung nach eindeutig Betrug, wenn es gespielt werde, um Leichtgläubige zu übertölpeln und um ihr Geld zu prellen. Das Spiel mache aber, ebenso wie die Kartentricks beim „Kümmelblättchen“, jedem ordentlichen fingerfertigen Zauberer alle Ehre und könne, richtig eingesetzt, gar, Anachronismus der Magie, der Aufklärung dienen.

Eine ganz eigene Beziehung zur Magie hat ein Altmeister der Branche, bei dem Udo aus Kleve und Timm aus Hamburg geduldig um ein Autogramm anstehen. Thomas Salvano ist groß, hager, unauffällig. Wenn er lacht, blitzen seine dunkelgrünen Augen irgendwie wie eine Mischung aus Merlin und Catweazle. Er sagt: „Ich mag den Ruhm nicht. Das ist mir nur peinlich.“ Und er fühlt sich „unglücklich“ in der heutigen Zeit: „Phantasie und Magie sind auf der Strecke geblieben.“ Von den modernen Tricks des David Copperfield, von Elektronik und Effekthascherei hält er nichts: „Tricks sind nur eine Hilfe, um Menschen in den Bann zu schlagen.“ Salvano hat in Polen Kunst studiert, gegen Ende des Krieges zufällig einen Zauberer gesehen und war fasziniert. Damals, erinnert er sich, gab es keine Handbücher, keine käuflichen Tricks: „Und die wenigen Zauberer wahrten ihre Geheimnisse.“ Er habe sich alles „abgeguckt, darüber nachgedacht, wie der das macht, ausprobiert“. Und wurde unweigerlich, erst in Polen und dann in der ganzen Welt, berühmt. „Naja“, sagt er, „in der magischen Welt kennt man mich schon.“ Erst spät, nach harter Lehrzeit, habe er entdeckt, daß seine autodidaktischen Tüfteleien „besser waren als das Original“. Darauf ist er stolz: „Mir hat keiner was beigebracht.“ Salvano vermutet: „Vielleicht war ich im vorigen Leben schon ein Zauberer.“

Bei der Eröffnungsgala am Donnerstag vormittag auf der Bühne wird deutlich, was seine Qualitäten ausmacht. Die Bühne ist weder schwarz ausgeschlagen noch trickfreundlich ausgeleuchtet. Da hatte Omar Pascha aus Frankreich im orientalischen Gewand recht beeindruckend ein Tischchen schweben, Gespenstertücher tanzen und Menschen verschwinden lassen, Johnny Lonn aus Schweden sich als trotteliger Gentleman selbst ironisiert und Petrick & Mia aus den USA glitzernde Kugeltricks vorgeführt. Und dann kommt Altmeister Salvano, voll ausgeleuchtet, bescheiden gewandet mit klassischen Utensilien und dem beinahe schwerelosen Programm, daß sich Karten aus der Luft greift, Gläser leert und füllt und die drei Kriterien meisterhaft erfüllt, die Joachim Schenkel am Anfang als Säulen der Zauberei genannt hatte: Erscheinen, Verschwinden, Verwandeln. Da wird, nimmt er bei dem männerdominierten Hobby an, „das Kind im Manne wach“. Die meisten Profis haben klein angefangen: mit einem Zauberkasten als Geburtstagsgeschenk.