■ Studentenstreik 94
: „...bis wir wissen, was wir wollen“

„Wir müssen streiken, bis wir wissen, was wir wollen“, sagte vergangene Woche eine aufgeregte Studentin vor 2.000 Kommilitonen im vollbesetzten Audimax der Hamburger Universität. Die StudentInnen befristeten den Streik dann doch. Aber keine Äußerung drückt die Stimmung in den Hörsälen genauer aus als dieser Zwischenruf, den man natürlich abfällig interpretieren könnte: „Die wissen ja nicht, was sie wollen.“

Indes, „Wir wissen nicht, was wir wollen“, das ist tatsächlich die Signatur dieser Generation, die ansonsten nicht auffällt, es sei denn durch Unscheinbarkeit oder durch die gräßlichen Ausfälle der Deklassierten – Opfer, die sich Opfer suchen. Schwierigkeiten, sich zu artikulieren, haben auch die Studenten. Ihre Sprache ist fahrig. „Das Studium ist irgendwie grauenhaft oder so.“ Sie irren durch die Veranstaltungen der Hochschulen und fühlen sich wie Findelkinder auf dem Bahnhof. Züge fahren ein und aus, niemand weiß, woher sie kommen und wohin es geht. Aber man braucht Fahrkarten. Das treibt sie in die überfüllten Warteräume des Geisterbahnhofs.

Erbost sind die StudentInnen, daß denen, die in überfüllten Zügen keinen Platz finden, die Schuld daran gegeben wird, daß Fahrpläne nicht eingehalten werden. Künftig sollen sie mit Straftarifen zur Sanierung beitragen. Im Klartext: Wer die Regelstudienzeit deutlich überzieht, soll Studiengebühren zahlen. Aber das sogenannte Eckwertepapier der Kultus- und Finanzminister allein, gegen das Studenten allerorten streiken oder den „kreativen Ausnahmezustand“ ausrufen, es erklärt das allerneuste Grummeln in den Hochschulen nicht.

„Wir müssen streiken, bis wir wissen, was wir wollen“, rief die Studentin ins Audimax und drückte damit das Lebensgefühl ihrer Generation aus, die sich wie keine vor ihr am Nullpunkt fühlt und zur Autodidaktik auf Gedeih und Verderb verurteilt ist. Diese Generation hatte kaum die Chance, sich an autoritären Eltern oder Lehrern zu wetzen. Diesen alten Profilierungschancen gibt es nichts nachzutrauern. Aber an die Stelle der Autoritäten hätten Mentoren treten müssen. Die zunächst naive und später verbissen dogmatische Gläubigkeit der 68er hat der politische Atheismus derer, die jetzt studieren, hinter sich gelassen, und das ist gut so. Insofern sind sie klüger. Sie wissen, daß es wenig Sinn hat, auf die Straße zu gehen und vor Ministerien zu demonstrieren, wenn man den Glauben an diejenigen, die drinnen an den Schreibtischen sitzen, längst aufgegeben hat – es wäre ein anachronistischer Zug.

Was tun? Es fehlt an Ideen, an Analyse und auch an Visionen. Die Vollversammlung an der Hamburger Universität, auf der 2.000 Studierende den Streik beschlossen haben, war ernüchternd. Das Studium sei Scheiße, Streik sei doch geil... Dann zaghafte Einwände, daß man so nicht diskutieren könne. Auch dafür Beifall, aber die geforderten Redebeiträge mit Niveau bleiben aus.

Ratlosigkeit. Dann einige Versuche mit linker Rhetorik. Das Kapital versuche sich, kritiklose Büttel in Kurzstudiengängen heranzuziehen. Fachidioten seien gefragt. Aber das stimmt so eben nicht. Wer in den letzten Jahren mit Personalmanagern gesprochen hat oder sich die ungewohnte Lektüre der Wirtschaftspresse zumutet, wird vom Gegenteil belehrt. Ängstliche Spezialisten werden allseits beklagt. Teamfähigkeit wird vermißt. Der Präsident der Fraunhofer-Institute für angewandte Forschung, Hans-Jürgen Warnecke: „Spezialisten sind weder bereit noch in der Lage zu kommunizieren.“ Und anders als die Verschwörungstheoretiker, die sich ihre Ratlosigkeit mit alten Feindbildern vertreiben, gibt Maschinenbauprofessor Warnecke zu: „Wir sind mit unserem Denken am Ende. Hochschulen und Schulen erziehen Einzelkämpfer. Damit kommen wir nicht weiter. Wir brauchen eine andere Kultur.“

Die Hochschulen sind derzeit offenbar nicht in der Lage, diese Diskussion aufzunehmen, geschweige denn ihre Kultur zu verändern oder sie auch nur zu überprüfen. Von den Professoren hört man nicht viel, wenn sie nicht gerade publizistisch oder sonstwie in der Öffentlichkeit so aktiv sind, daß ihnen für die Uni wohl kaum Zeit bleiben kann. Die Professoren, viele von ihnen Mitglieder der ersten Generation der Autodidakten, der 68er, sie brachten das Kunststück fertig, zu Aposteln des Wissens, des Vielwissens und der Besserwisserei zu konvertieren. „Kenn' ich schon“, lautet ihre Parole. Der Berliner Hochschuldidaktiker Carl-Helmut Wagemann, ein Dissident der Professorenzunft, hat ausgerechnet, daß Studierende einen 28-Stunden-Tag bräuchten, um die Stoffpläne, die sich aus den Prüfungskatalogen der Ingenieurwissenschaften ergeben, durchzuarbeiten.

Der Münchner Biologieprofesor Gerhard Neuweiler, obgleich als derzeit Vorsitzender des Wissenschaftsrates auch eher ein Außenseiter, gibt zu, daß er als Neurophysiologe schon manche Buchtitel angrenzender Disziplinen innerhalb der Biologie nicht mehr versteht. So weit sei die Spezialisierung fortgeschritten. „Aber“, so Neuweiler, „den Studenten wird das ganze Wissen ungeordnet und lieblos in den Trog geschüttet.“ Seine Folgerungen sind weitreichend. Abschied vom Perfektionismus und vom Bluff der Vielwisserei! Aber der Abschied von der Lernfabrik fällt schwer. Nicht zuletzt deshalb, weil deutsche Ordinarien und der ganze frisch geduschte Mittelbau wissenschaftlicher Angestellter, die entweder noch auf Karriere hoffen oder aber resigniert auf Dienst nach Vorschrift umgeschaltet haben, weil also der mit Wissen aufgedunsene Lehrkörper seine Spezialgebiete pflegt und die Studenten damit stopft wie Mastgänse. Das macht das Studium so taub, so mühselig und so uninteressant. Das Grauenhafte an der Lernfabrik ist, daß sie infantilisiert. Daß hier junge Menschen bis zum 30. Lebensjahr in dem Gefühl gehalten werden: Eigentlich kann ich nichts.

Die Streikaktionen an den Hochschulen müssen ihr Thema noch finden. Sie müssen die falsche Kampfpose gegen Eckwertepapiere und Co. ablegen. „Streiken, bis wir wissen, was wir wollen“? Das wird niemand durchhalten. Aber eben doch einige Räder im sinnlosen Betrieb anhalten und sich Zeit und Raum für eine Akademie inmitten der Uni erkämpfen. Das wird schwer sein an Hochschulen, die in jeder Hinsicht überfüllt sind. Aber man kann den Versuch nicht aufgeben, sie wieder zu interessanten Orten zu machen, in denen die höheren Formen des Lernens, also der Austausch, das Gespräch und die Muße kultiviert werden. Wenn man es hier nicht versucht, wo dann? Und es gibt Bündnispartner zu entdecken! Bündnispartner muß man nicht gleich lieben. In der Industrie immerhin ist man dabei, die Kreativität zu loben. Es bleibt ihr nämlich nichts anderes übrig. Dort spricht man neuerdings von der Notwendigkeit zu „entlernen“, wenn neue Ideen aufkommen sollen. Die Kreativen wußten es immer. Albert Einstein formulierte lakonisch: „Phantasie ist wichtiger als Wissen.“ Reinhard Kahl