: „Ausmerzung der Terrororganisation“
■ Türkische Regierung erklärt 1994 zum „Wendejahr“ und stockt das Militär auf
Seit Tagen läuft eine Offensive der türkischen Armee gegen Stellungen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in den Gebieten an der türkisch-irakischen Grenze. Nach Regierungsmeldungen werden dabei täglich PKK-Kämpfer getötet, mindestens 31 seien es in den letzten Tagen gewesen. Wahrscheinlich sind noch mehr Menschen gestorben, in jedem Falle jedoch ist die offizielle Version nicht immer die wahre. Da ist zum Beispiel die Stadt Cizre.
Für die 60.000 Einwohner der kurdischen Stadt am Tigris ist der nächtliche Beschuß zur Gewohnheit geworden. In der Nacht von Sonntag auf Montag starben erneut sechs Menschen. Das Feuer kam aus einer Mörserbatterie und traf das Haus des städtischen Angestellten Ramazan Bilgic. Bilgic und weitere fünf Mitglieder der Familie kamen ums Leben. Bereits vergangenen Donnerstag waren drei Einwohner des Wohnviertels Cudi in Cizre den Mörsern zum Opfer gefallen. In einer amtlichen Verlautbarung der Ausnahmerechtspräfektur in Diyarbakir heißt es, daß „Terroristen“, sprich PKK-Guerilleros, das Feuer eröffnet hätten. Dabei seien drei Kämpfer getötet worden.
Doch die amtliche Darstellung darf man bezweifeln. Einwohner Cizres berichten gegenüber der taz, daß von der Militärkaserne auf das Viertel gefeuert wurde. Als dann die Polizei bei der Beerdigung der Toten Proteste erwartete, fuhr sie mit Panzern auf und verhinderte die Teilnahme an dem Trauerzug.
Das Viertel Cudi ist ein Slumquartier, das erst im Laufe der vergangenen Jahre entstanden ist. Viele kurdische Bauern, die aus ihren Dörfern vertrieben wurden, fanden hier Zuflucht. Sympathie und Unterstützung für die PKK gehören zur Selbstverständlichkeit. Der türkische Staat setzt dagegen auf kollaborationsbereite kurdische Stammesführer, die ihre Ergebenen in die sogenannten „Dorfmilizen“ einschreiben. Diese Milizen werden vom türkischen Staat bewaffnet, um gegen die PKK zu kämpfen. In Cizre ist es der Teyan-Stamm unter Leitung des Stammesführers Kamil Atak, der Waffen vom türkischen Staat erhielt. Im Dezember überfielen PKK-Kämpfer die Häuser des Stammesführers Atak und töteten sechs Dorfmilizen. Nur zufällig entkam Atak dem Überfall, weil er sich zum Zeitpunkt des Angriffs nicht in Cizre aufhielt. Seitdem haben sich die Übergriffe auf das Cudi-Viertel verstärkt. In den vergangenen Wochen haben Tausende aus Angst das Viertel verlassen. Nach dem jüngsten Angriff sprach der Abgeordnete Mahmut Alinak von einem „Massaker gegen die Zivilbevölkerung“, das „nicht ohne Rückendeckung seitens der Regierung und des Generalstabes erfolgen“ könne.
Der Mörserangriff in Cizre steht im Einklang mit der allgemeinen Linie der staatlichen Politik, die auf eine militärische Lösung der kurdischen Frage setzt. Die türkische Ministerpräsidentin Tansu Ciller hat das Jahr 1994 zum Wendejahr im „Kampf gegen den Terrorismus“ erklärt. „Die Ausmerzung der Terrororganisation PKK“ ist erklärtes Ziel des türkischen Generalstabes. Jede unpopuläre Maßnahme der Regierung, wie Steuererhöhungen und Preiserhöhungen bei den Waren der staatlichen Betriebe, wird mit dem Verweis darauf legitimiert, daß die Mittel zur „Terrorismusbekämpfung“ erforderlich seien.
Anfang Januar erklärte die türkische Regierung, daß die Soldaten, deren Entlassung aus dem Militärdienst unmittelbar bevorstand, bis zu vier Monate länger wehrpflichtig bleiben. Ministerpräsidentin Ciller rechtfertigte sich mit den Forderungen des Militärs: „Der nationale Sicherheitsrat und unsere Sicherheitskräfte wollten es so.“ Die Truppenstärke der türkischen Armee wird so von 430.000 auf 540.000 Mann aufgestockt. Die Öffentlichkeit reagierte empört auf den Erlaß der Regierung. Es war die Rede von „Betrug an den Rekruten“. In den Kasernen kam es zu Widerstand und Fahnenflucht. Empörte Mütter schickten Protesttelegramme an die Ministerpräsidentin. Von einer großen Kampfmoral der Soldaten kann ohnehin nicht die Rede sein. Legt man die Zahlen des türkischen Verteidigungsministers Mehmet Gölhan zugrunde, ist jeder fünfte türkische Wehrpflichtige fahnenflüchtig.
Bei der personellen Aufstockung des Militärs argumentierten Regierungsvertreter auch mit den bevorstehenden landesweiten Kommunalwahlen im März. Nur das Militär könne für die Durchführung der Wahlen in den kurdischen Regionen garantieren. Doch ob es zu freien Wahlen in den kurdischen Regionen kommen wird, ist recht zweifelhaft. Aus Angst vor Terrorakten findet sich kaum jemand bereit, sich zur Wahl zu stellen. Kandidaten der auch im Parlament vertretenen kurdischen „Partei der Demokratie“ (DEP) gelten als Sympathisanten der PKK. Die Mitgliedschaft in der Partei ist Anlaß genug für Festnahme und Folter. Dutzende Funktionäre der Partei fielen Attentaten von Todesschwadronen zum Opfer. Die Rechtskommission des türkischen Parlamentes plädierte dafür, die Immunität von vier Abgeordneten der Partei aufzuheben, damit sie vor dem Staatssicherheitsgericht angeklagt werden können. Der Staatsanwalt des Staatssicherheitsgerichtes Ankara fordert die Todesstrafe gegen die Parlamentarier. Außerdem läuft ein Verbotsantrag gegen die Partei vor dem Verfassungsgericht, so daß sie eventuell überhaupt nicht an den Wahlen teilnehmen kann. Demgegenüber hat die PKK mit Ausnahme der DEP ein „Parteienverbot“ in Kurdistan verfügt. Kandidaten, die sich für die bürgerlichen Parteien aufstellen lassen, fürchten um ihr Leben. Ömer Erzeren
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