Nachlesen kann man das sowieso - oder?

■ Lesung zum 80. Geburtstag von Arno Schmidt im Foyer des Thalia Theaters

Die einleitenden Worte zur FreitagNacht-Lesung im Mittelrangfoyer des Thalia waren kurz und knapp; der am 18. Januar 1914 in Hamm geborene Arno Schmidt braucht auch gar nicht viel Worte der Einführung - entgegen einer ersten Vermutung. Joachim Kersten, Bernd Rauschenbach und Jan Philipp Reemtsma stellten einen Autor vor, der es verstanden hatte, seine Zeit selbst noch in ihren Nebengedanken und geistigen Abwesenheiten auf den Begriff zu bringen, ohne über die Gedankensprünge zu stolpern.

Wer schon mal die Gelegenheit hatte, in das über tausend Seiten starke und mehrere hundert Mark teure DIN-A3 Werk „Zettels Traum“ hineinzulesen, weiß, mit welchen Schwierigkeiten das Lesen verbunden ist: Da erwarten den Leser durchweg drei Spalten Text, in der Mitte die Handlung, die flankiert wird von Anmerkungen zu einer Übersetzung der Werke Poes, um die es hauptsächlich geht, und Notizen zur geistigen und natürlichen Landschaft der Sechziger Jahre. Diese drei Spalten können zwei Augen gar nicht gleichzeitig lesen, geschweige denn ein Mund allein vorlesen.

Kersten, Rauschenbach und Reemtsma, die sich schon zu Lebzeiten um das Werk des 1979 gestorbenen Autoren bemühten, präsentierten bei der - ausverkauften - Lesung aus „Zettels Traum“ nicht das zwischen Satzzeichen gerutschte Buchstabengewirr. In der Dramaturgie von lautem und leiserem Lesen, schnellem und langsamen Sprechen wird „Zettels Traum“ von den drei Sprechenden interpretiert wie ein Drehbuch. Sie lesen die drei Spalten synchron, so daß die Texte eine Art Übersetzung erfahren, als handle es sich um eine Partitur für eine Sprache, deren Musikalität wir längst verloren haben. In seiner „Gelehrtenrepublik“ nannte Schmidt die deutsche Sprache wohl nicht umsonst eine tote Sprache.

Synchron heißt: links Rundfunk-Nachrichten, rechts abschweifendes Irgendwas, und in der Mitte schließlich eine äußerst dichte Bestandsaufnahme bundesrepublikanischer Verhältnisse, eine Analyse der Nachrichten. Man hört also den Text eines politischen Schriftstellers und durchstößt damit die falsche Annahme, Schmidt wäre mit seiner Sprache Vorbild jener Literaten, für die Inhalt zum Schimpfwort geworden ist.

So weit wären das Eckdaten, die zeigen, wie falsch es war, daß Reemtsma die vorzulesenden Passagen aus „Zettels Traum“ mit einem „Nachlesen-kann-man-das-sowieso“ erläutert hat: Dieser dreispaltige Monolith kann eben nicht einfach nachgelesen werden. Zum Nachlesen eignen sich da eher die vorgetragenen Kurzgeschichten Schmidts, die nicht nur erschwinglich sind, sondern auch der Weg in das Universum von „Zettels Traum“ sein können.

Roger Behrens