Sanssouci
: Nachschlag

■ "Vom Anfang der Welt" in der Charlottenburger Orangerie

Am Anfang, wahrlich, so berichtet uns Hesiod in seiner „Theogonie“, war alles Chaos. Bis die breitbrüstige Gaia, die Erde höchstselbst, kam und in einem ingeniösen Akt der Selbstbefruchtung einen Mann gebar: es war Uranos, der sternenreiche Himmel. Mit ihm trieb der Schoß der Erde bald weitere starke Kinder hervor. Der hinterlistige Kronos jedoch, der Jüngste, haßte seinen Vater und ersann eine üble Tat. Eines Nachts, als Uranos wieder einmal Gaia in Liebesverlangen umhüllte, da schnitt der Sohn dem entblößten Vater mit einer Sichel den Schwanz ab. Seine Beute warf er achtlos in die wogende See, die sich freilich nicht folgenlos mit dem fruchtbaren Teil verband: so kam Aphrodite, die Liebe, in die Welt.

Als Tina Engel am Samstag in der Großen Orangerie des Charlottenburger Schlosses im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Schauplatz Museum“ aus Hesiod vorlas, hatte man weniger den Eindruck, einer philosophisch abgründigen Spekulation über den chaotischen Ursprung allen Seins beizuwohnen, als einer grausigen Geschichte über das sich ewig bekriegende Göttergeschlecht. Mit ihrer tiefen, strengen Stimme, von der man nie genau weiß, ob sie gleich in traurigem Ernst versinkt oder zu revolutionärer Emphase aufsteigt, durchquerte die Schaubühnendarstellerin zusammen mit dem Schauspieler Friedhelm Ptok die ewig gleichen und doch stets anderen Geschichten, die nur der Mythos erzählen kann: die Geschichten vom Anfang der Welt.

Ob nun wie in der japanischen Legende vom heiligen männlichen Geist, der plötzlich entdeckt, wie da ein Ding an ihm wächst, und dem heiligen weiblichen Geist, der merkt, daß ihm da kein Ding wächst, woraufhin beide beschließen, sich doch just an dieser Stelle zusammenzutun, und so alsbald die acht Inseln Japans entstehen, oder ob wie im „Popol Vuuh“, dem Mythos der Maya, alles von der Götterfamilie der Grünfederschlange seinen Anfang nimmt oder ob, wie in der biblischen Genesis, ein einsamer Gott in sieben Tagen in einem übermütigen Sprechakt die Welt erschafft – die beiden Vorleser holen die himmlischen Götter stets in weltliche Gefilde zurück. Action Storys von Sex and Crime im Götter-Clan, als wäre Hesiod ein Hollywood-Drehbuchautor avant la lettre gewesen. Die Mythen wurden von den beiden sowenig in die Vergangenheit verbannt, wie die Ausstellung „first europeans“, zu der die Lesung gehörte, den Betrachter in die Frühgeschichte des Europäers verschlägt. Hier liegen zwar auch ein paar Neandertaler herum, doch spannend sind in der Ausstellung nicht die alten Ausgrabungsfunde, sondern die ultramodernen Visionen der Medienkunst, etwa Nam June Paiks Videoskulptur „Darwin“ oder Peter Weibels neueste interaktive Computer-Installation „Der Vorhang von Lascaux“, die dort in einem kuriosen Doppelpack zusammen mit den Knochen präsentiert werden. Andrea Kern