■ Stadtmitte: Das Elend der Rechtsphilosophie
„Die strafrechtliche Ahndung von Staatskriminalität“ war das Thema. Auf dem Podium zwei Staatsanwälte. Eine beschäftigt sich mit der Verfolgung von NS- Straftätern in der (alten) Bundesrepublik, die bekanntermaßen eher eine Freisprechung von NS- Verbrechern bewirkte als eine Ahndung. Der andere verfolgt „SED-Regierungskriminelle“.
Beide beschrieben wortreich die Hindernisse, die sich der zügigen Aburteilung der vermuteten Straftaten entgegenstemmten. Die Beiträge des Menschenrechtspublikums waberten von der Verdächtigung, daß weder die Verbrechen der Faschisten noch die der „SED-Kriminellen“ ernsthaft verfolgt würden. Überhaupt keinen Gedanken verschwendeten Podium und Zuhörer auf die perverse Gleichsetzung von NS-Unrecht mit SED- Unrecht, die bereits in der Themenstellung angelegt war. Die NS-Verfolgerin verlor sich in schwer erträglichen Erklärungen dazu, warum der Abtransport von jüdischen Einwohnern in die Gaskammern ab 1943 nicht mehr als heimtückisch anzusehen war. Nahezu im selben Atemzug erging sich der SED-Verfolger in leiernden Schwadronagen über das Problem, einem SED-Richter den Rechtsbeugungsvorsatz nachzuweisen.
Eine Diskussion der grundlegenden Probleme der zeitgenössischen Verfolgung von „Regierungskriminalität“ unterblieb. Unausgesprochen blieb die Erkenntnis, daß die Justiz bei der Aufarbeitung des „SED-Unrechts“ die westlichen Werte des Kalten Krieges zugrunde legt und daß es deshalb die auch von liberalen Kritikern erkannte massive Ungleichbehandlung von NS- Kriminellen und SED-Kriminellen gibt. Warum verfügt der greise Mielke über eine den NS- Mördern so überlegene Gesundheit, daß zwar kein Mörder in Volksgerichtshofrobe, auch wenn er erst knapp über 70 Jahre alt war, verfolgt werden konnte, Mielke aber mit nun über 86 Jahren noch unverdrossen für haftfähig gehalten wird? Wieso konnte ein Richter am Volksgerichtshof glauben, einem „ordentlichen“ Gericht anzugehören und daher nicht wegen Rechtsbeugung verfolgt zu werden, während bei einem Richter am Stadtgericht Mitte, der an einer arbeitsrechtlichen Entscheidung mitwirkte, die „Unordentlichkeit“ in den Augen der P-Staatsanwälte beim Kammergericht so offen zutage liegt, daß darüber gar kein Wort mehr verloren werden muß?
Da wäre es vielleicht wirklich interessant gewesen, diejenigen zu fragen, die heute Betroffene verteidigen. Da wäre die Gleichsetzung von NS- mit SED-Unrecht ohne weiteres problematisiert worden. Und es wäre auch deutlich geworden, daß es Folge eines verlorengegangenen grundsätzlichen Mißtrauens gegen staatliche Gewaltausübung ist, daß das Vorgehen der SED-Verfolger jedenfalls bei den Menschenrechtsgruppen der alten Bundesrepublik bis heute allenfalls ungläubiges Staunen, nicht aber systematische Kritik erfahren hat. Jony Eisenberg
Anwalt und Mitglied der Kanzlei, die Mielke verteidigt.
Siehe auch Bericht auf Seite 5
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