Krebsrisiko über den Wolken

Wer über den Atlantik jettet, setzt sich hohen Strahlendosen aus / Hauptbetroffene: Das fliegende Personal / Die Pilotenvereinigung Cockpit fordert höhere Schutzmaßnahmen  ■ Von Markus Dobstadt

Begonnen hat die Diskussion um die Strahlenbelastung unter dem fliegenden Personal kurz nach dem Atomunfall in der Ukraine. „Fliegen wir durch Tschernobyl- Wolken?“ war die Hauptfrage der Besatzungen, die sich im Jahr 1986 zu einer Versammlung in Wien mit Experten trafen. Gut siebzig Piloten ließen sich von Wissenschaftlern erklären, daß die Gefahr, durch atomare Strahlung geschädigt zu werden, relativ gering sei. Die natürliche Strahlung hingegen, der sie bei einem Flug über den Atlantik ausgesetzt seien, so die Wissenschaftler, könne unter Umständen tausendmal höher sein.

Die Höhenstrahlung wird von verschiedenen Teilchen hervorgerufen, die aus dem Weltraum stammen. „Das Magnetfeld der Erde beeinflußt die Teilchen. Wenn sie in die obere Atmosphäre eintreten, werden sie entweder nach Norden oder nach Süden abgelenkt“, erläutert Dirk Schalch vom Physikalischen Institut der Justus- Liebig-Universität in Gießen. das Institut wurde von der Pilotenvereinigung Cockpit mit Messungen beauftragt. Deswegen ist bei Flügen auf der Nordroute, etwa in die USA, und bei Flügen am Südpol die Strahlenbelastung am größten.

Bislang interessierte sich niemand dafür, wie gesundheitsgefährdend ein Arbeitsplatz in mehreren tausend Metern Höhe sein kann. Die deutschen Strahlenschutzvorschriften beziehen sich nur auf künstliche Strahlung. Im Ausland ist es übrigens nicht anders. Ein Zustand, den die Pilotenvereinigung Cockpit für „rechtlich bedenklich“ hielt, wie der Sprecher ihrer Arbeitsgemeinschaft Strahlenbelastung, Eckerhard Kraska, in München mitteilt. Sie wandte sich an das Bundesverkehrsministerium in Bonn. Dort zeigte man zunächst kein Interesse. Von 1986 bis 1988 geführte Verhandlungen zu dem Thema blieben ergebnislos. Auch an die Berufsgenossenschaft und an die Lufthansa wandte man sich. Zusammen mit dem GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit in München begannen die drei Angesprochenen schließlich ein mit öffentlichen Mitteln finanziertes Meßprogramm. Das erstaunliche Ergebnis war, „daß es Höhenstrahlung in nennenswertem Umfang nicht gibt“, sagt der Sprecher der AG Strahlenbelastung weiter. Da dies im Widerspruch zu insgesamt acht Forschungsberichten der letzten 15 Jahre stand, wollte die Pilotenvereinigung eigene Messungen durchführen lassen. Professor Arthur Scharmann vom Physikalischen Institut in Gießen und Mitglied der Reaktorschutzkommission wurde eingeschaltet. Sein Assistent Schalch setzte sich mit dem Meßgerät in die Maschine und flog dreimal über den Atlantik. Die Ergebnisse widersprachen den Aussagen der GSF. „Eigentlich seien sie gar nicht so unterschiedlich gewesen“, meint Schalch, aber „es kommt darauf an, wie man die Ergebnisse interpretiert“. Mit Fehlerquoten von bis zu 50 Prozent müsse man rechnen, so der Physiker. Und während die Gießener daher auf die Meßergebnisse sicherheitshalber 50 Prozent aufschlugen, ignorierten die Münchener die Schwankungsbreite und präsentierten sie wie abgelesen. Damit lagen die beiden Messungen „relativ weit auseinander“, meint der Gießener Wissenschaftler.

Die Pilotenvereinigung gab weitere Gutachten in Auftrag. Zwei „sehr wichtige Gutachten“, so die Vereinigung, erstellte der Marburger Nuklearmediziner Professor Horst Kuni. Das erste aus dem Jahr 1991 hatte zum Inhalt, die biologische Wirksamkeit von Neutronen, die ab 10.000 Meter Höhe den Hauptteil der Teilchen bilden, festzulegen. Kuni bestimmte einen Faktor, um dessen Wirksamkeit ausdrücken zu können. Um das Ergebnis noch einmal zu überprüfen, also um sicher zu sein, daß diese Strahlung biologisch wirksam ist, beauftragte die Pilotenvereinigung nun die Universität Münster. Dort sollte untersucht werden, ob Strahlenfolgen im Blut festzustellen sind. Das geschah mit Hilfe eines Verfahrens, das man „biologische Dosimetrie“ nennt. Ergebnis: Die eigenen Messungen und die Ergebnisse von Professor Kuni wurden „prächtigst bestätigt“, heißt es aus München von dem Sprecher der Pilotenvereinigung. Seine eigene – gemessene – Strahlenbelastung gibt der Pilot mit 1.000 Millirem/Jahr an. Nach der Deutschen Strahlenschutzverordnung, die 1989 verschärft wurde, liegt er damit am oberen Wert für beruflich belastete Personen, bei einem angenommenen Berufsleben von vierzig Jahren. Eine weitere Messung, die das Bundesamt für Strahlenschutz in Braunschweig unternahm, bestätigte die Pilotenvereinigung ebenfalls.

Die stellt nun die Forderung auf, das fliegende Personal künftig nicht nur mit in die Strahlenschutzvorschriften aufzunehmen, sondern man wollte die Fluggesellschaften auch dazu bewegen, tiefer zu fliegen. „Eine Möglichkeit, 90 Prozent der Höhenstrahlung zu umgehen“, wie Kraska meint. Allerdings verbraucht der Flieger in großer Höhe deutlich weniger Kerosin. Und im Wettbewerb um Passagiere zählt jede Mark. Nach Ansicht der Pilotenvereinigung ist diese Haltung „nicht nur gegenüber den eigenen Mitarbeitern fraglich“, sondern man habe auch „Verpflichtungen gegenüber den Passagieren“, die man einer Gefahr aussetze.

Wie groß die gesundheitliche Gefahr ist, wußte man bislang nicht. Daher unternahm Kuni in einem zweiten Gutachten vom Frühjahr 1993 eine „Bewertung der Strahlenbelastung in Düsenverkehrsflugzeugen aus medizinischer Sicht“. Er stellte fest: Auf der Erde würde es sofort zur „Einrichtung eines Kontrollbereiches“ kommen und zu einer regelmäßigen Untersuchung der Personen, „wenn eine solche Ortsdosisleistung homogen in allen Kontrollbereichen die Regel wäre“.

In ihrem letzten Bericht über Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung aus dem Jahre 1990 bewertet die Bundesregierung die Strahlenbelastung des fliegenden Personals noch als „mit der natürlichen zivilisatorischen der Bevölkerung“ vergleichbar. Unterschiedliche Faktoren wie oftmals hohe Einsatzzeiten, überdurchschnittlich häufiger Einsatz auf besonders belasteten Flugrouten oder Durchfliegen eines „Sonnenwindbruchs“, wobei die Strahlenbelastung stark steigt, gingen dabei nicht mit in die Rechnung ein. Im Gegensatz zur Bundesregierung meint Kuni, daß schon eine Arbeitszeit von 650 Stunden pro Jahr zu einer Jahresdosis führe, „die den Grenzwert der Strahlenschutzverordnung für Dauerarbeitsplätze erreicht“. Und Einsatzzeiten von 1.000 Stunden pro Jahr kommen vor. „Trotz aller Unsicherheit in der Abschätzung“ hält der Marburger Professor „genetisch bedingte Gesundheitsschäden in den Folgegenerationen“ für „absehbar“. Eine Verringerung der Arbeitszeit auf „maximal 500 Stunden pro Jahr“ hält er für unbedingt erforderlich. Außerdem schlägt er als Maßnahmen zur „Verminderung des Strahlenfeldes im Flugzeug“ vor: Begrenzung der Flughöhe, Warnsysteme vor Solarwindausbrüchen, bessere Abschirmung der radioaktiven Fracht.

Auch die Passagiere erhalten Strahlendosen, wenn sie auf den entsprechenden Routen mitfliegen. Zwar ist die individuelle Belastung gering, aber durch die sehr hohe Zahl ergibt sich eine „Kollektivdosis“, so Professor Kuni in seinem zweiten Gutachten für die Pilotenvereinigung, die zusätzliche Krebstodesfälle „in dreistelliger Höhe“ erwarten lasse. Danach muß niemand, der in die USA möchte, wieder den Dampfer nehmen, aber: „Schwangere und kleine Kinder gehören nicht ins Flugzeug“, sagt der Marburger Nuklearmediziner.

Inzwischen läuft vor dem Verwaltungsgericht Köln ein Verfahren mit dem Ziel, durchzusetzen, daß das fliegende Personal in die Strahlenschutzverordnung aufgenommen wird. Daß dies notwendig ist, ist auch in den Behörden den meisten klar. Das Problem ist nur, daß eine gesamteuropäische Regelung gefunden werden muß. Und die kann noch eine Weile auf sich warten lassen. Bis dahin fliegt ein jeder auf eigenes Risiko.