: Irgendwo, weit hinten im Lacandon-Urwald
Wird Mexikos Armee bei der Suche nach den Zapatisten den Urwald durchkämmen? ■ Aus San Cristóbal de las Casas Thomas Schmid
Was den Ökologen schrecken mag, erfüllt den Indianer mit Stolz. „Als wir vor dreißig Jahren ankamen“, sagt Jacinto González mit einer weit ausholenden Bewegung seines gestreckten Armes, „gab es nur Dschungel, dichten Dschungel.“ Heute grasen hier Kühe, grunzen Schweine, plärren Kinder. Eine ansehnliche Siedlung ist entstanden: Nueva San Juan Chamula. Vor dreißig Jahren ist Jacinto González aus seiner alten Heimat, dem Dörfchen San Juan Chamula bei San Cristóbal de las Casas, weggezogen. Den traditionellen schwarzen Poncho der Chamula-Indianer hat er längst mit einer gewöhnlichen Jacke getauscht. Auch Nueva Huixtan und Nueva Poza Rica wurden Anfang der sechziger Jahre gegründet, als die mexikanische Regierung die Rodung des Urwalds in Chiapas förderte. Die Neusiedler benannten ihre Dörfer nach jenen ihrer alten Heimat – ganz so wie einst das französische Orléans dem amerikanischen New Orleans Pate gestanden hat. Doch die Aufbruchstimmung ist längst vorbei. Heute entleeren sich die Dörfer. Ein Drittel der Einwohner von Nueva San Juan Chamula ist bereits geflohen. Der Krieg ist nah.
In Nueva Poza Rica, sagt Juan, sei es noch schlimmer, dort sei nicht einer geblieben. Für den Mestizen, der hier unter den durchwegs schmächtigen Indianern schon seiner Leibesfülle wegen auffällt, sind dies schlechte Zeiten. Er schmuggelt Waren aus Guatemala über die Grenze, vor allem pharmazeutische Produkte. Zwei Stunden Fußmarsch sind es ins Nachbarland.
Nach Nueva Poza Rica sind es von Comitan, der nächstliegenden Kleinstadt, fünf Autostunden. Die Siedlung erreicht man auf einer Schotterstraße, die es auch einem geländegängigen Wagen nicht erlaubt, schneller als 30 Kilometer die Stunde zu fahren. Der Weg führt vorbei an tiefblauen Seen, bald durch dichten Bergurwald, bald durch abgeholztes Gelände, ab und zu tauchen ein paar Holzhäuser am Straßenrand auf. Der Militärposten Flor de Café – Kaffeeblüte – steht leer. Er ist vor wenigen Tagen geräumt worden.
Juan hat sich geirrt. Es gibt Menschen in Nueva Poza Rica, allerdings nicht eine einzige Mexikanerin und nicht einen einzigen Mexikaner. Nur die 320 guatemaltekischen Flüchtlinge, in ihrer übergroßen Mehrheit Canjobal-Indianer, sind geblieben. Sie alle sind 1982 hierhergekommen, als unter der Diktatur von Rios Montt die Armee im Kampf gegen die Guerilla ganze Dörfer ausrottete und Zehntausende Indianer massakrierte. Allein in Chiapas sind noch heute 23.000 Flüchtlinge aus Guatemala registriert. Zwei Drittel von ihnen leben hier im Grenzgebiet. Mit nichts sind sie nach oft tage- oder wochenlangen Märschen angekommen, haben gerade das nackte Leben gerettet.
Die Arbeitgeber haben das Dorf verlassen
Aber inzwischen haben sie sich in ihrer neuen Heimat einigermaßen eingerichtet. Die meisten von ihnen arbeiten zu miserablen Löhnen von drei bis sechs Pesos am Tag – umgerechnet anderthalb bis drei Mark – bei mexikanischen Familien, die ihnen oft auch Land verpachten, wo sie dann Mais und Bohnen pflanzen. Doch jetzt sind in Nueva Poza Rica ihre Brötchengeber alle weg, einige haben ihre Tiere noch zu einem Spottpreis verkauft – 500 Pesos für eine Kuh, für die man eine Woche zuvor noch ohne weiteres 1.300 Pesos erzielen konnte.
Der Stolz der Guatemalteken von Nueva Poza Rica ist ihre Klinik, die mit Hilfe norwegischer Gelder entstanden ist. Ein Arzt und sechzig Helfer behandeln nicht nur die eigenen Landsleute, sondern auch die Mexikaner der drei umliegenden Dörfer. Von Malaria und Amöben, Impfungen gegen Scharlach und Tuberkulose, von den 35 Patienten, die täglich die Klinik aufsuchen, und von den drei Geburtshelferinnen, die Tag und Nacht im Einsatz sind, spricht Diego Marcos, einer der Arzthelfer, in einem Redefluß, der kaum Nachfragen zuläßt. Doch auf die Flucht der Mexikaner, auf Krieg, Armee und Guerilla angesprochen, kommt das Gespräch ins Stocken. „Wir denken, wir haben kein Recht, uns in ihre Geschichten einzumischen“, sagt er schließlich ausweichend. Er ist offensichtlich bemüht, der Propaganda mexikanischer Kreise, die hinter dem Krieg in Chiapas guatemaltekische Drahtzieher wittern, keine Nahrung zu liefern. Manuel José Tomás, der ebenfalls 1982 über die Grenze geflohen ist, nachdem die Armee sein Haus in Brand gesteckt hatte, und der auch als Arzthelfer arbeitet, wagt sich etwas weiter vor und meint vage: „Als die hier in Nueva Poza Rica sahen, daß die von weiter oben flüchteten, dachten sie wohl, es sei nun besser, auch abzuhauen.“
Weiter oben – da liegt das Dörfchen Santo Tomás. Der Urwald ist weiträumig abgeholzt, nur noch Kulisse. Auch hier sind alle Guatemalteken geblieben. Die meisten Mexikaner aber sind geflüchtet. Eine Familie jedoch ist gerade zurückgekommen. Der Mann, der seinen Namen nicht nennen mag, erzählt, auch er und die Seinen seien vor zehn Tagen geflohen, weil man ihnen allen gesagt habe, die Guerilleros der „Zapatistischen Befreiungsarmee“ (EZLN) seien auf dem Vormarsch und würden sie bald zwangsrekrutieren, und so sei es besser, zu gehen. „Man“ – so stellt sich schließlich heraus – das waren die lokalen Führer der „Partei der institutionellen Revolution“ PRI, der Staatspartei, die seit siebzig Jahren an der Macht ist und hier in Chiapas so gut wie alles kontrollierte – bis vor zwei Wochen jedenfalls. Ins Dorf ist der Krieg nicht gekommen, auch sind keine Soldaten aufgetaucht, und so fühlte sich der Mann betrogen und kam zurück. „Die wollen uns bloß alle weghaben, wer zur PRI hält, der geht, und wer bleibt, der wird dann als Zapatist behandelt“, meint er und fügt entschlossen hinzu: „Wir bleiben trotzdem.“ Nein, er sei kein Zapatist, aber vertreiben lasse er sich von seiner Scholle nicht so einfach. Zapatisten gebe es oben, in Rizo de Oro.
In Rizo de Oro hört die Straße auf. Gleich hinter der Siedlung beginnt dichter Urwald. Irgendwo, weiter hinten, drei Stunden Fußmarsch entfernt oder auch acht Stunden, so genau weiß das hier niemand, oder will es hier niemand wissen, jenseits des nahen Berges jedenfalls, im Lacandon-Urwald, liegt das Dorf Guadalupe Tepeyac. Dort ist das Hauptquartier der EZLN, der Guerilla, die am Neujahrstag in Chiapas vier Städte besetzte, um sich dann – im großen und ganzen geräuschlos, wie richtige Indianer eben – wieder in die Berge zurückzuziehen. Dort soll auch der Ex-Gouverneur Absalon Castellanos gefangengehalten werden, den die Zapatisten entführten. Seit Tagen pfeifen das die Spatzen vom Dach, so daß eigentlich anzunehmen ist, daß die Guerilleros ihr Hauptquartier samt dem gefangenen Gouverneur längst anderswohin verlagert haben.
Die Gruppe von einem Dutzend Männern, die in Rizo de Oro auf dem Dorfplatz steht, schaut uns, drei fremde Besucher, feindlich, zumindest mißtrauisch an. Schließlich erfahren wir, daß die örtlichen Amtsinhaber bis auf den „Comisario ejidal“, der für Landfragen zuständig ist, alle abgehauen sind, daß die Armee bislang nicht aufgetaucht ist, daß vor vier Tagen zum letztenmal der Berg bombardiert worden ist und daß viele von ihnen hier in der PRI sind. Die PRI sei faktisch gespalten. Die Frage, ob der eine Teil der PRI dann die Zapatisten unterstütze, ist rhetorischer Natur. Immerhin tragen fünf der Männer Uniformhose und Militärstiefel, recht ungewöhnlich für indianische Bauern. Sie seien keine Zapatisten, meint schließlich einer in einem Tonfall, der deutlich signalisiert, daß man das Gespräch zu beenden wünsche. Als die Fotografin neben mir ihren Apparat vorsichtig in Stellung bringt, drehen sich die fünf Männer fast beiläufig um und verschwinden.
Soll dem Fisch das Wasser abgegraben werden? Der Verdacht erhärtet sich in der Kleinstadt Comitan, wo ein Teil der Flüchtlinge der Urwalddörfer in der „Feria“ interniert ist, auf einem Gelände, das alljährlich mehrmals als Festspielplatz dient. Das Areal war schon immer gegen unliebsame Eindringlinge umzäunt und mit Stacheldraht bewehrt. Doch auch der Eingang ist verschlossen. Erst nach üblen Drohungen, andernfalls den Skandal publik zu machen, gibt der Pförtner schließlich nach und läßt den Gast eintreten. Bis Freitag letzter Woche durften die Flüchtlinge das Gelände nicht verlassen. Ein einsichtiger Grund für dieses Verbot ist nicht auszumachen. Inzwischen wird ihnen nach Vorlage des Personalausweises Ausgang gegeben, falls sie dafür einen triftigen Grund anführen oder einen solchen überzeugend vortäuschen.
Die Hilfslieferungen werden nicht verteilt
1.245 Flüchtlinge leben hier in mit Wellblech bedeckten Holzschuppen. Sie sind vor einer Woche aus Nueva Poza Rica, aus Nueva San Juan Chamula, aus Guadalupe Miramar und San Carlos del Rio angekommen. Für das Nötigste ist gesorgt. Die Lebensmittel liefern katholische Basisgemeinden und das DIF, eine staatliche Institution zur „integralen Entwicklung der Familie“. Gekocht wird an Feuern im Freien. Zwar gibt es eine Apotheke und einen ärztlichen Dienst im Lager, doch aus unerfindlichen Gründen wird er von den Flüchtlingen, von denen viele an Erkrankungen der Atemwege leiden, nicht in Anspruch genommen. Zwar werden Hilfslieferungen von Kleidern und Decken in einem verschlossenen, einsehbaren Schuppen gelagert, aber aus rätselhaften Motiven heraus nicht verteilt, obwohl viele Flüchtlinge, die aus tiefer gelegenen Zonen stammen, hier auf 1.500 Meter Höhe offensichtlich frieren. Das DIF, dem die Verwaltung des Lagers obliegt, unterhält kein Büro, an das sich die Flüchtlinge wenden könnten, sondern nur einen Funktionär, dessen Aufgabe es scheint, den Pförtner zu kontrollieren.
Die Antworten der Flüchtlinge sind verdächtig stereotyp. „Weshalb sind Sie geflüchtet?“ – „Man sagte uns, wir sollten gehen, die Zapatisten kämen.“ – „Wer ist ,man‘?“ – „Es gab Gerüchte.“ – „War die Armee da? Zivile Unbekannte?“ – „Nein, nur Gerüchte.“ – „Aber die Gerüchte müssen doch irgendwoher kommen?“ – „Ja, die Leute vom Nachbardorf sagten, die Zapatisten kämen.“ – „Aber Sie haben doch nicht einfach aufgrund eines Gerüchts Haus, Tiere und Land zurückgelassen?“ – „Wir sind für die Regierung.“
Immer wieder ist von der Bedrohung durch die Zapatisten die Rede. Doch nicht einer gibt an, selbst bedroht worden zu sein. Nur einer der Befragten, ein Tojolabal- Indianer, läßt durchblicken, die örtliche PRI habe die Abreise quasi angeordnet, der Druck sei groß gewesen. Man habe nicht als Zapatist gelten wollen.
Am Samstag titelt die unabhängige mexikanische Zeitung La Jornada, die aufgrund ihrer umfassenden Berichterstattung über den Krieg in Chiapas – täglich zwischen zwanzig und dreißig Seiten – hier nach einer halben Stunde jeweils ausverkauft ist, mit Berufung auf eine militärische Quelle: „Die Armee wird auf der Suche nach Guerilleros den Urwald durchkämmen.“
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