Ungewollte Reflexionen

■ „Trilogie M.R.“: John Neumeiers Choreographie zu Maurice Ravel

Melancholie als ewiges oberstes Emblem seiner Bilder-Türmung beschäftigt John Neumeier auch in Trilogie M.R. Wie ein basso continuo durchwirkt der Gedanke an den Tod seit einigen Jahren seine Choreografien, und in dieser Stimmung verfangen sucht er nach blutdurchpulsten Bildern für den Weltschmerz, der sich nur noch in Sehnsucht, aber nicht mehr in Konkretion erfährt. Folglich bestimmen nicht Konflikte und erwachsene Annahme der Wirklichkeit seine Arbeitsrichtung sondern Wehmut, Träume, Verwunschenheit. In ihrer Ausschließlichkeit ist diese Verweigerung der bewußten Reflexion über seine in den Hintergund verbannten thematischen Komplexe Aids, Sterben, Einsamkeit sowie Gott- und Sinnsuche im Resultat ein pathetischer Fluchtinstinkt, dem sich ein gewisser Teil gezierte Pose des unverstandenen Künstlers beimischt. In dieser Geste verfangen und verfestigt sucht Neumeier nicht die Lösung der ihn beherrschenden Widersprüche, sondern deren choreografische Verklärung.

Vermeidung und Verdrängung von Konflikten, die er formal durch das ihm inzwischen typische, strukturierende Element der (meist weiblichen) Naivität ungültig zu machen versucht, zu durchbrechen, kann damit höchstens ungewollt geschehen. Damit sind wir wieder bei der Trilogie zu Musik von Maurice Ravel, die am Sonntag in der Oper Premiere hatte. Denn was Neumeier dort im ersten Teil des Abends Secrets zeigt, liest sich wie der so lange vermißte Subtext zu seiner Verherrlichung der Melancholie. Zögerlich aber immerhin betritt er die Labyrinthe der Psyche und findet dort scheinbar unbeabsichtigt Momente der Reflexion.

Plötzlich entwickelt sich aus der winterlichen Märchenreise eines Mädchens (Bettina Beckmann), die sich dem Motiv nach kaum von anderen Neumeierschen Rührstücken unterscheidet, eine spannende Polarität aus Manie und Depression. Statt mit vieldeutiger und handwerklicher Magie der Harmoniesucht zu fröhnen und das Leiden zu verzuckern, stellt sich die Verzweiflung als im dialektischen Spannungsfeld zu Hause dar. Angst wird nicht zur huldvoll getanzten Metapher für Hobby-Metaphysiker sondern real und damit als Prozeß kenntlich. Die Spannung, die in der Verlockung und Bestürzung durch andere Menschen entsteht, der verzweifelte und doch schüchterne Kampf gegen den Rückzug in eine verschlossene Leidenschaft, umgeben vom eisigen Selbst, hierfür findet Neumeier Bilder, die gelegentlich die Offenheit psychoanalytisch deutbarer Assoziationen entwickeln. Daß er sich eng an Dramaturgie und Temperament von Ravels Streichquartett F-Dur hält, das dem Bild innerer Zerissenheit eine musikalische Form zwischen schmerzlicher Dissonanz und kühler Erhabenheit gibt, mag mit dazu geführt haben, daß sich Neumeier so weit von seinen gewohnten, wehmütigen Tableaus entfernte.

Doch bevor man hier allzu schnell nach neuem Mut zur Selbstergründung spricht, bleibt die Frage nach der bewußten Autorenschaft, die Neumeier im Programmheft auch weit von sich weist. Die fortwährende Schutzsuche in einer heimeligen Bilderwelt konnte scheinbar vielmehr durch die glücklichen Umstände von Musik, Atmosphäre und einer Tänzerin (Beckmann), die die Selbsthinterfragung mitbetrieb, einmalig überwunden werden. Denn der zweite und dritte Teil der Trilogie kehrt geschwind zurück ins bekannte Vokabular (wofür es dann aber wenigstens tosenden Applaus vom Hamburger Publikum gibt).

Now and Then, wie die anderen Teile auch einem an Aids gestorbenen Tänzer gewidmet, kontrastiert zum Konzert für Klavier und Orchester G-Dur im Adagio assai ein romantisches Pas de deux (Heather Jurgensen und Radik Zaripov) mit einer Showszene zum Presto, die an „Ein Amerikaner in Paris“ erinnert. In einer diesmal blutroten Welt (Bühne: Zack Brown) wirken insbesondere die fröhlichen Ausbrüche wie die Verzweiflungsschreie von Zinnsoldaten in Sporthosen der Jahrhundertwende.

Der abschließende Gang durch den Blue Garden kehrt endgültig zur kindlichen Träumerei zurück. Vier Märchenfiguren als Trost- und Leidensgemeinschaft stranden im Tiefblau. Hier gruppiert Neumeier um die Geschichte von „Die Schöne (Gigi Hyatt) und das Biest (Gamal Gouda)“ kleine Szenen aus anderen Märchen, die aber aus sich heraus keine Erzählung liefern. Die offensichtlich durch Mats Ek beeinflußte Choreografie besteht aus homogenen Phantasien der Verlorenheit und findet im chinesischen Tanz von Eric Miot und einer symbolschwangeren Bankettszene mit Gouda und Hyatt ihren Höhepunkt.

Till Briegleb