Überdosis als roter Faden

■ Neue Gutachten im UKE-Strahlenskandal / Auch Prostatakrebs-Patienten verstrahlt / Krankenakten „ausgesprochen ärmlich“  Von S. Koch und U. Exner

„Viel Physik und Technik, wenig Arzt.“ Oder auch: „Unter Berücksichtigung der gesamten 184 Patienten ist die Zahl mittelschwerer bis schwerer Nebenwirkungen überdurchschnittlich groß.“ Zu diesen Bewertungen kommen zwei gestern vorgestellte neue Gutachten über die Behandlungsmethoden des suspendierten Chefradiologen der Uniklinik Eppendorf (UKE), Professor Klaus-Henning Hübener. Untersucht wurden ausgewählte Fälle von Prostatakrebs-Patienten.

Wie schon bei den im vergangenen Jahr veröffentlichten Gutachten zu Strahlenschäden bei Darmkrebs-Patienten gehen die Professoren Rolf Sauer (Erlangen) und Michael Wannenmacher (Heidelberg) auch bei den Prostata-Patienten davon aus, daß die von Hübener verordneten Strahlendosen in den Jahren 1986 bis 1990 in der Regel zu hoch waren. Niederschmetternd für den Arzt, der sich gestern abend vor dem Wissenschaftsausschuß der Bürgerschaft zu verteidigen suchte (siehe unten), niederschmetternd für die Patienten und ihre Angehörigen. Und teuer für die Stadt Hamburg, die vermutlich für die durch die Behandlung eingetretenen Schäden haften muß.

28 Krankenakten bekamen die Gutachter zur Bewertung vorgelegt – und ihr Urteil klingt in vielen Punkten vernichtend: In neun Fällen, so Wannenmacher, sei die Strahlendosis zu hoch, in fünf weiteren Fällen sehr hoch gewesen. Und auch Sauer stellt fest: „Wenn überhaupt ein roter Faden bei der Aktendurchsicht erkennbar wurde, dann war die Dosiswahl regelhaft im oberen Toleranzbereich mit einer meist überhöhten Dosis im Dosismaximum“.

Aber nicht allein an der Höhe der Bestrahlung stießen sich die Experten. Sauer kritisiert auch, daß die ärztlichen Angaben in den Krankenakten „ausgesprochen ärmlich“ seien. So fehlen Hinweise auf Vor- und Begleitkrankheiten, auf frühere Tumorerkrankungen und auch auf mögliche vorherige Radio- und Chemotherapien. Aus den Akten, so Sauer, sei nicht mal erkennbar, ob die Patienten während oder nach der Bestrahlung ärztlich untersucht worden seien.

Weiteres Manko Hübenerscher Behandlungsmethoden laut Sauer: Nicht zu bestrahlende Körperstellen seien in einigen Fällen nicht mit Strahlenschutzmaterial abgedeckt, sondern gleich mitbestrahlt worden. Der Erlanger Professor kritisiert in seinem Gutachten auch die unzureichende Aufklärung der Patienten über die Behandlungsmethoden. Sauers Fazit: Die Durchsicht der 28 Krankenakten offenbare „eine bemerkenswerte Unsicherheit bei der Indikationsstellung und bei der Dosiswahl im Rahmen der Radiotherapie des Prostatakarzinoms.“

Der für das UKE zuständige Wissenschaftssenator Leonhard Hajen erklärte gestern abend vor dem Ausschuß, daß seiner Behörde bisher etwa 220 Schadensersatz-Klagen von ehemaligen Hübener-Patienten beziehungsweise von deren Angehörigen vorliegen. In 20 Fällen seien bereits Abschlagszahlungen in Höhe von insgesamt 925.000 Mark geleistet worden.