„Soziale Hülfe“ als Magenfrage?

Auf „Suppenlinas“ Spuren: Ein Streifzug durch Berliner Kiezküchen, Sozialkantinen und autonome Volxküchen / Erste Volksküche wurde 1866 eröffnet  ■ Von Uwe Rada

Nudeln mit Tomatensauce zum Gebell umherbalgender Hunde. Im „Ex“, der autonomen Chefetage im Kreuzberger Mehringhof, ist das kein Thema mehr. Hunde sind dort eh verboten, und statt Nudeln gibt es Putenbrust auf Blattsalat. Volxküche à la carte, nouvelle cuisine selbst bei den Autonomen?

Ohne Mampf kein Kampf! Das gehört zum guten Ton und ist obendrein linke Tradition. Volxküchen gehören zu besetzten Häusern wie die Speisung der fünftausend zum neuen Testament und die Kita zum sozialen Wohnungsbau. Kaum eine Neubesetzung in Ost und West, bei der nicht noch vor dem unvermeidlichen UnterstützerInnenplenum zur „Vokü“ ins verbarrikadierte Haus mobilisiert würde. Nirgends ist offenbar die Vereinigung der kapitalistischen und staatssozialistischen Alltagskultur so fortgeschritten wie beim autonomen Essenfassen. Erst das Fressen, dann erst Miete und Moral?

„Die Leute sollen satt werden“, beschreibt Michael Stammler seine Kiezküchen-Philosophie, „es muß schmecken, und billig muß es sein.“ Für drei Mark gibt es in der Oderberger Straße 50 im Prenzlauer Berg knusprigen Hackbraten oder unverkochten Gemüseauflauf. „Normalverdiener“, jene also, die „mehr als 1.000 Mark netto“ monatlich erwirtschaften, zahlen zwei Mark mehr. „Das billige Essen“, gibt sich Stammler überzeugt, „ist auch ein Signal gegen die Yuppisierung im Bezirk.“ Hausbesetzer ist Michael Stammler freilich nicht, Hausbesitzer schon eher: Nachdem ein Makler die Oderberger Straße 50 der alten Erbengemeinschaft im Frühjahr 1993 für 250.000 Mark abgejagt hatte, und das Projekt „Kiezkantine“ zu kippen drohte, setzten Stammler und der Verein „So Oder So“ sämtliche Hebel in Bewegung. Mit Erfolg für Makler und den Kiez: Die Kantine konnte im Dezember vergangenen Jahres die Tür öffnen, und das Haus ist für das Doppelte des vormaligen Preises in den Besitz der Bewohnergenossenschaft übergegangen. „Das Wichtigste ist nun“, sagt Michael Stammler, „daß die Bewohner hier einen Treffpunkt haben, an dem sie sich austauschen können.“ Durch die Zusammenarbeit mit der Betroffenenvertretung und der Initiative „Wir bleiben alle“ habe man außerdem die Möglichkeit, konkrete Hilfe auch bei Problemen mit den Hausbesitzern anzubieten.

Volksspeisungen haben in der Kleine-Leute-Stadt Berlin Tradition. Ebenso die Überzeugung, daß ihrer Inanspruchnahme nichts Unwürdiges anhaftet. „Die Volksküche ist keine Almosen-Anstalt“, schrieb bereits hundert Jahre vor der Studentenrevolte Lina Morgenstern. Am 9. Juli 1866 hatte die damals 36jährige Tochter eines Breslauer Fabrikanten in der Charlottenstraße die erste Berliner Volksküche eröffnet. Weitere 14 folgten innerhalb weniger Jahre. Auf dem Speiseplan der Frauenrechtlerin standen nicht weniger als 31 Gerichte, von „weißen Bohnen, Kartoffeln und Rindfleisch“ bis zu „Apfelreis mit Schmorfleisch“. Die „Suppenlina“, wie sie im Berliner Volksmund bald genannt wurde, verfolgte mit ihrem Verein, dem auch der Sozialreformer Adolf Lette und der Arzt Rudolf Virchow angehörten, nicht nur das Ziel, die „Volksgesundheit“ zu heben, sondern auch, die Volksküchen auf Dauer selbständig zu machen. Von den Suppenküchen der Kirchen, den Armutsspeisungsanstalten für Notleidende, grenzte sie sich ab: In den Volksküchen solle sich „der Arme gehoben fühlen, seinen Bedarf da zu erhalten, wo ihn jedermann ohne Scheu kaufen kann“. Entsprechend waren die Einrichtungen in der Rosenthaler, Linien-, Landsberger, Friedrich- und Kochstraße offen für alle und wurden ihrem Namen auch dadurch gerecht, daß bereits 1871 2,2 Millionen Essen in den Berliner Volksküchen ausgegeben wurden.

Hinter der sozialen Fürsorge der Lina Morgenstern verbarg sich freilich auch die Furcht vor sozialer Rebellion gegen jene, die von der Armut profitierten. Insbesondere im Berliner Norden, schrieb die „Suppenlina“ 1868 in ihrer Broschüre Die Berliner Volksküchen, seien „die Proletarier längst eine gefürchtete, gefahrdrohende Masse geworden, die in kritischen Zeiten allzu leicht zu politischen Bewegungen fortgerissen wurden, ohne das Verständnis politischer Ziele zu haben, schwankend, der Gewalt der Persönlichkeiten folgend und nur einen Zweck im Auge habend: Verbesserung ihrer unglücklichen Lage“. Der Furcht vor unregierbaren Verhältnissen im großen entsprach in den Morgensternschen Volksküchen auch die bis auf kleinste organisierte Ordnung im Innern, mit Küchenvorstandsdamen, Prüfungskommissionen und Wochenrapporten. „Darum begrüßen wir freudig den Ruf unseres Jahrhunderts: Der Arbeit die Ehre! Dem Arbeiter die Hülfe der Humanisten!“ Ganz so streng mit Arbeitseifer, Reformertum und Ordnung hat man es in den autonomen Volxküchen dagegen noch nie genommen. Die Tradition mit dem „X“ reicht hier zurück zur Hausbesetzerzeit Anfang der achtziger Jahre und der offensichtlichen Erfahrung, daß der unmittelbar erlebte Kantinenfraß „Im Namen des Volkes“ den Kalorienbedarf eines Streetfighters nicht annähernd decken kann. Und weil das Private bekanntlich politisch ist, hat die Nahrungsmittelzufuhr folglich kollektiv zu sein. Die legendärste „Vokü“ der achtziger Jahre befand sich zweifelsohne im SO 36 am Heinrichplatz. Spätestens um 18 Uhr mußte man hier sonntags aus dem Bett gekrochen sein, um im länglichen Schlauch des „Esso“ nicht nur sein Essen, sondern auch den neusten Szeneklatsch abzubekommen.

Nicht immer freilich wurde der Anspruch, fürs Volk zu kochen, auch eingelöst. Manche Voküs waren nichts anderes als der verlängerte Küchentisch der umliegenden und hungrigen Besetzer-WGs. Andere wiederum, wie jene im Kreuzberger „Falckeladen“, sind noch heute altehrwürdige Institutionen des autonomen Lebens. Deren Siegel der geschlossenen Gesellschaft kommt inzwischen etwas verstaubt daher. Die Volksküche als Bestandteil autonomen Lebensgefühls flackerte zwar noch einmal auf, als nach der Maueröffnung der Bezirk Friedrichshain zum Importbezirk westlicher Szenekultur wurde. Doch die Zeit ging auch hier nicht spurlos an den Protagonisten vorbei: In der Niederbarnimstraße 23 in Friedrichshain strich man etwa die Wände weiß und lud auch Hooligans, getreu nach dem Motto „Raus aus dem Ghetto, rein ins Volk“, zum gemeinsamen Essen.

Unweit der Niederbarnimstraße, auf dem zweiten Hinterhof der Warschauer Straße 58/59 befindet sich seit knapp einem Jahr die Kiezküche Friedrichshain. Als Teil der ABS Brücke GmbH, einer vom Betriebsrat durchgesetzten Auffangsgesellschaft des einst nahegelegenen und nun abgewickelten Glühlampenherstellers Narva, wird hier seit März 1993 vor allem ein preiswerter Mittagstisch angeboten. „Frisch gekocht“, wie Küchenchef Jürgen Jung betont. Insbesondere ältere Kiezbewohner sind es, die an den schlichten Tischen sitzen und es sich schmecken lassen. Die Räume teilt sich die Kiezküche mit dem Frauenprojekt „Paula“, das zusätzlich zum Angebot des Brücke-Projekts jeden Tag eine Vollwertmahlzeit vorweisen kann. „Für diejenigen, die nicht mehr zu uns kommen können“, sagt Jürgen Jung, „bieten wir einen fahrbaren Mittagstisch an.“

Gänzlich umsonst beliefert wird die Wärmestube „Warmer Otto“ in Moabit von der Kiezküche in der Waldenser Straße 2–4 unweit der Arminiusmarkthalle. Seit fast fünf Jahren gibt es dieses ABM- Projekt nun, aber im Gegensatz zu den Ost-Küchen sind hier die Preise vergleichsweise gesalzen. 10 Mark zahlt man für ein Zanderfilet, sechsfuffzich für einen Käse- Wurst-Salat Emmentaler Art. Trotzdem finden täglich 150 bis 180 Essen ihre Abnehmer. 13 ABM-Kräfte, erzählt Geschäftsführer Heinz Kläre-Wendler, „arbeiten zusätzlich zu zehn Beschäftigten nach BSHG 19“. Anders als beim Narva-Auffangbetrieb Brücke handelt es sich hierbei vor allem um „benachteiligte Jugendliche“.

In Zeiten grassierender gesellschaftlicher Vereinzelung mutet der Versuch, sozial Schwachen in der gemeinsamen Küche eine Alternative zum einsamen Mahl zu Hause anzubieten, geradezu revolutionär an. In diesem Sinne unterscheiden sich die Kiezküchen der sozialen Träger deutlich von ihren Vorgängern im vergangenen Jahrhundert, denen es vor allem darum ging, die Proleten von der Straße zu holen, „denn ihre Frage“, so Lina Morgenstern, „ist keine politische – es ist eine Magenfrage, die nur durch soziale Hülfe gelöst werden kann“.

Michael Stammler von der Prenzelberger Kiezkantine ist da anderer Meinung: „Wir wollen vor allem präventiv helfen“, sagt er, „immerhin gibt es viele Menschen hier im Kiez, die ihre sozialen Probleme noch nicht als endgültig ansehen.“ Kurzfristige Hilfe durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen erhalten in der Kiezkantine derzeit zwölf Beschäftigte. Die meisten von ihnen sind über 45 und auf dem Arbeitsamt schwer vermittelbar. Nicht wenige haben früher in HO-Gaststätten gearbeitet. Doch hinter der straßenseitig gelegenen Fensterfront verbirgt sich kein sprödes „Sprelacart“-Ambiente, sondern ein gemütlicher Betrieb mit Café- und Kneipenatmosphäre. „Das Angebot wird angenommen“, freut sich denn auch Michael Stammler über derzeit ausgegebene 100 Essen täglich. „Wichtig ist nämlich auch, daß sich die Leute hier trotz der billigen Preise nicht weniger wohlfühlen als im normalen Restaurant.“