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■ Der Ornithologe und die mexikanische RevolutionUnter Vögeln und Soldaten

Ocosingo (taz) – In Sachen Vogelkunde macht ihm hier im Süden Mexikos so schnell keiner was vor. Peter Bichier Garrido, Venezolaner mit französischen Eltern, kennt alle 320 Vogelarten, die an seinem Wohnort heimisch sind. Er weiß, daß der Wilsonia Pusila gerade so schwer wie ein Quarter ist und aus Alaska hergeflogen kommt und daß der Blackpoll Warbler in der Regel in drei bis vier Tagen von Kanada nach Kolumbien jettet. Jede Woche schickt er einen Zwischenbericht mit Zensus an die Smithsonian Institution in Washington. Absender: Centro de Aves Migratorios (Zentrum für Zugvögel), Ocosingo, Chiapas, Mexiko.

Ocosingo, 900 Meter über dem Meeresspiegel gelegen, ist für Ornithologen ein idealer Ort. In einer Stunde ist Bichier auf den 2.000 Meter hohen Bergen und in einer halben Stunde im Dschungel unten. Bichier fühlt sich unter den Tzeltal- Indianern seines Dorfes wohl und liebt seine Arbeit über alles. Trotzdem, am Neujahrstag hätte auch er gern den Silvester-Kater ausgeschlafen. Doch sein Chef, für fünf Tage aus den USA angereist, bestand darauf, die Zeit seines Aufenthalts im Süden Mexikos optimal zu nutzen. Und so machten sich die beiden am 1. Januar morgens um sieben Uhr, bewaffnet mit Fernglas, Aufnahmegerät und Rucksack auf den Weg. Schon nach kurzer Zeit stießen sie auf einen mit Macheten und Flinten bewaffneten Trupp von Indianern, die behaupteten, sie würden notfalls tausend Tode sterben, um ihr Land zurückzugewinnen.

Nun, Bichier ist keineswegs der schrullige Forscher, wie man ihn aus Karl Mays Büchern kennt. So nahm er sich vor, der Sache nachzugehen – sobald sein Chef einmal weg sein würde. Am 2. Januar wurde in Ocosingo den ganzen Tag über geschossen. Am 3. Januar kamen die Soldaten in Bichiers Haus. Am 4. Januar schließlich brachte der Ornithologe seinen Chef durch alle Fronten und über alle Sperren hinweg zum Flughafen von Tuxtla Gutierrez, der 170 Kilometer entfernten Hauptstadt von Chiapas. Auf dem Rückweg geriet er schon 15 Kilometer außerhalb des Flughafens in eine Militärkontrolle. „Aber mach mal im Krieg einem Soldaten klar, daß du das Fernglas bei dir hast, weil du Vogelkundler bist“, sagt Bichier, „und dann findet der in deinem Notizbuch noch die Adressen von Leuten aus Saudi- Arabien, Israel und Kolumbien.“ Kein Wunder also, daß er direkt in Fußketten gelegt und ausgiebig ausgequetscht wurde.

Nach sieben Stunden Verhör, unter Pression, Drohungen und Psychofolter, ließ man Bichier laufen. In San Cristóbal de las Casas, auf halbem Weg zu seinem Wohnort Ocosingo, suchte der Vogelkundler die Redaktion der örtlichen Zeitung El Tiempo auf und erzählte seine abenteuerliche Geschichte. Die Chefredakteurin hörte sich die Story an, schaute dem Mann tief ins Gesicht, arrangierte eine Pressekonferenz und präsentierte den jungen Mann den Journalisten als „Comandante Marcos“, den zur Zeit meistgesuchten Mann Mexikos, der am Neujahrstag die etwa 400 Indianer angeführt hatte, die einen Tag lang San Cristóbal besetzt hatten. In der Tat glich der Mann schon ein bißchen dem Guerillero der Zapatistischen Befreiungsarmee, und immerhin beherrschte der in den USA ausgebildete Venezolaner französischer Herkunft mehrere Sprachen. Während Heerscharen von Journalisten Jagd auf Marcos machten, hatte sich die Redakteurin von El Tiempo einfach einen Jux geleistet. „Gleichzeitig wollte sie mich absichern“, entschuldigt Bichier die Frau, „sie ging davon aus, daß ich – angesichts der wirklich frappanten Ähnlichkeit zwischen Marcos und mir – auf der Straße keine hundert Meter hätte gehen können.“ Thomas Schmid

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