Fliegende Städte

■ Welcher Architekt streitet sich nach dem Tod von Charles Moore noch mit der Postmoderne

Immer zum Jahreswechsel erlaubte sich der amerikanische Architekt Charles Moore einen Spaß. Seinen Freunden, berichtet der Bauhistoriker Heinrich Klotz, schickte der amerikanische Architekt Grußkarten mit selbstgemalten naiven Motiven. Es waren wilde Phantasielandschaften in Tusche oder Aquarell, in denen auf steilen, zackigen Felsen mächtige Paläste oder romantische Hexenhäuschen stehen. Von den Kuppeln und Terrassen steigen Strickleitern zu den Luftschlössern und Montgolfieren empor, die sich in den Wolken verfangen haben.

Die Traum- und Spielwelten Charles Moores waren nicht bloßer Zeitvertreib oder gar Illustrationen zu Calvinos „unsichtbaren Städten“. Sie bildeten vielmehr das Programm des großen postmodernen Baumeisters. In den Bildern der fliegenden Städte verbarg sich Moores Bauphilosophie, mit der er sich Häuser und Orte erdachte – und plante. Die Gebäude sind, wie die Skizzen, Collagen, aus historischen und modernen, trivialen und komplexen Motiven zusammengesetzt. „Wenn Gebäude sprechen sollen“, schrieb er 1978 einmal, „müssen sie die Freiheit haben, zu sprechen.“ Grenzen, Baudoktrinen oder Ideologien lehnte er ab.

Charles Willard Moore, der 1925 in Michigan zur Welt kam, starb am 16. Dezember 1993 in seinem Haus in Austin, Texas. Moores spezifisches architektonisches Ausdrucksvokabular machte ihn zu einem führenden Vertreter der amerikanischen Postmoderne. Die wilde Sprache seiner frühen Bauten kritisierte jedoch den historisierend eklektizistischen Geist, der sich etwa aus der Theorie Charles Jencks ableitete. Wie bei den Architekten Robert Venturi und Denise Scott Brown oder Aldo Rossi gleicht Moores „postmoderne Reaktion“ auf starren Funktionalismus und ausdruckslosen Städtebau einer Suche nach narrativen und fiktionalen Bedeutungen in der Architektur.

Seine Bauten und streitbaren Schriften zielten auch nicht auf eine Revision der Moderne, deren Diskreditierung und Verhöhnung, sondern strebten nach einer Einbindung des Pathos der klassischen Moderne in das postmoderne Bauvokabular. Noch heute erscheinen darum die kleinen Landhäuser der 60er und frühen 70er Jahre mit den lustigen Dekors und verspielten Formen und Zitaten als neue architektonische Erlebnisräume. Moores Fähigkeit, analysierte Heinrich Klotz, liege in der Vermittlung von Architektur, die sich selbst nicht ganz ernst nimmt. Illusion und Fiktion, Ironisierung des Ernsthaften und Feier des Trivialen steigerten sich zu einem baulichen Verfremdungseffekt.

Charles Moore entwickelte seine Architektursprache an einfachen Objekten. Nach dem Studium an der Princeton University und seiner Lehrtätigkeit an der Architekturfakultät von Yale platzte er, kaum selbständig, 1966 in den Architekturzirkus mit der gebauten „Sea-Range“ an der Pazifikküste; einem Wohnbau in der Form eines simplen Schuppens. Die nachfolgenden Wohnhäuser, etwa das Klotz-House (1969), das Rodes-House (1976) oder das Godman-Projekt (1969), multiplizierten die Gestaltung einfacher, aber verschachtelter sowie kulissenhafter Baukörper-Ensembles bis zu einem fast schmerzhaften Grad. So setzt sich das kleine Landhaus (Klotz-House) aus vertikalen Keilen, Winkeln, Erkern, Vor- und Rücksprüngen über oktogonalen Räumen zusammen und erinnert einmal mehr an jene Hexenhäuschen der Neujahrskarten. Das zweigeschossige Rodes- House dagegen versteckte Moore ganz hinter einer halbrunden klassizistischen Fassade, die sich wie ein Mantel um den Bau legt und diesen in ein Bühnenbild verwandelt.

Die Verfremdung nostalgischer Sehnsüchte und Banalisierung heroischer Architektursymbolik setzte Moore an seinen zwei wohl bekanntesten Planungen, dem Kresge College in Santa Cruz (1974) und bei der Piazza d'Italia, New Orleans (1978) in Szene. Das College mit Wohnungen und Instituten verband Moore zu einer dorfähnlichen Anlage, mit modernen ein- und zweigeschossigen Flachbauten, die sich um mehrere Anger versammeln. Doch die Urform des gemeinschaftlichen Zusammenlebens überführte der Architekt in ein Vexierbild räumlicher Differenzierungen, perspektivischer Überraschungen und typologischer Brechungen, bei dem die Bauten mit neuen Nutzungs- und Funktionsformen „überblendet“ werden. Das Dorf als rückwärtsgewandte Idylle wird so karikiert. Moores spektakulärstes Projekt, die Piazza d'Italia, stellt den Höhepunkt und die gleichzeitige Wende in seinem Oeuvre dar, erscheinen doch die Formen nur noch als Selbstzweck. Der Verfremdungseffekt des offenen Versammlungsplatzes in einem Shopping-Center mit einer Anhäufung von Säulen, Kolonnaden, Bögen, Fontänen und anderen Formen aus dem Katalog der klassischen Baukunst ist nicht mehr zu erkennen. Moores scherzhafte Absicht, den Discount-Charakter des Ortes in der Architektur widerzuspiegeln, verglüht in simplen Inszenierungen baulicher Eklektizismen. Der runde Platz verschließt sich eher, die Baukörper bleiben Staffage, bunte Kulisse und dienen zur Seelenwanderung in alte Trugbilder.

Auch Moores Berliner IBA- Projekt „Tegeler Hafen“ (1987) mit einer wellenartigen Zeile, dem zentralen halbrunden Wohnblock, putzigen Stadtvillen und der schönen Humboldt-Bibliothek erscheint nur noch als bauliche Choreographie aus dem Baukatalog. Der Charme des Experimentellen fehlt, der Witz über architektonische Traditionen klingt verhalten. Die Bauten zeugen weniger von Phantasmagorien als vielmehr von Dekorationen, abgegriffenen Reminiszensen an klassische Architektur und leicht durchschaubaren Maskeraden für eine konservative Bauideologie. Moores frühes Credo, „Orte von Träumen zu nähren“, ist am Ende von der historisierenden Empfindsamkeit eingeholt worden. Rolf Lautenschläger