■ Zur positiven Unfallbilanz 1993
: Tragödie, Farce und Wiederholung

Nach Hegel ereignen sich alle weltgeschichtlichen Begebenheiten zweimal: Das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. – Die Tragödie: 1993 wurden auf deutschen Straßen rund 10.000 Menschen im Verkehr getötet. Eine Kleinstadt, ausgerottet mit Waffen aus Blech und Motorkraft. Den Blutzoll zahlten über 400 Kinder und mehr als 1.300 Alte. Wer alle Unfallopfer des letzten Jahres zusammensammelte, müßte ganz Nürnberg oder Leipzig in ein Lazarett verwandeln. 512.000 VerkehrsteilnehmerInnen wurden beim Krieg auf den Straßen angefahren, umgefahren, verwundet, verkrüppelt. Schulter an Schulter an den Rand einer Straße gelegt, könnten sie die Strecke von Hamburg nach Berlin säumen. – Die Farce: Der ADAC titelt in seiner Mitgliederzeitung vom Januar: „Positive Unfallbilanz 1993“.

Hinter der „guten Nachricht“ des ADAC steckt die statistische Tatsache: Im letzten Jahr hat der Mobilitätswahn in Ost- und Westdeutschland 600 Menschen weniger umgebracht als 1992. Das macht die Bilanz um sechs Prozent schöner. Was kümmert die Automobilisten angesichts dieses „positiven“ Trends noch die Tragödie der 10.000 einzelnen Toten?

Ein aids- oder krebskrankes Kind ist der Öffentlichkeit schon mal ein Nachdenken wert. Doch welches gesellschaftliche Interesse wecken Kinder, die tagtäglich von Männern und Frauen in ihren gefährlichen Kisten bedroht sind? Der Tod eines Kindes wird verbucht als notwendiges Risiko der Autogesellschaft. Seniorenverbände geißeln zu niedrige Renten oder mangelnde Integration alter Menschen als verminderte Lebensqualität. Und was ist mit der faktischen Lebensminderung – dem Überlebenskampf auf den Straßen? Ziehen die Verbände zu Felde gegen extrem kurze Ampelphasen, welche die Alten zu Kaninchen herabwürdigen, die über die Kreuzung keuchen, um nicht umgenietet zu werden?

Man denke an den Krieg in Ex-Jugoslawien und die zigtausend Opfer im letzten Jahr. Man stelle sich die Nachricht in den „Tagesthemen“ vor: Moderator Wickert spricht lächelnd von einer positiven Kriegstotenbilanz. Begründung: die Todesziffer sei leicht gesunken. Die Reaktion der Nation: tiefste Empörung ob dieses Zynismus. Die Care-Pakete nach Bosnien hätten neue Konjunktur, und Wickert – als Menschenverächter gebrandmarkt – würde seines Lebens nicht mehr froh. Derlei Behandlung muß weder der ADAC noch sonst einer aus der Riege der motorisierten Opferpriester fürchten. Blutopfer auf den Straßen sind uns keine Empörung wert. „Positive“ Unfallbilanzen, die nichts anderes sind als Statistiken über Mord und Totschlag, Selbstmord, Körperverletzung, Bedrohung und Nötigung, nehmen wir gelassen hin. Als wären die Exzesse des Straßenverkehrs eine gesellschaftliche Konstante, die tägliche Tragödie ein notwendiger Tribut an Volk und Vaterland. Mit dem entsprechenden Pathos und der freiheitlich-rechtsstaatlichen Legitimation ist der Fetisch ja bereits ausgestattet.

Wer wie der ADAC das Auto als Fetisch und nicht als Vehikel betrachtet, wer das Problem nicht in der Hochgeschwindigkeitsmobilität sieht, sondern in – noch – unzureichenden Sicherheitsstandards, wer das herrschende Konzept der automobilen Gesellschaft nie zur Disposition stellt, spuckt auf die Gräber der Unfalltoten. Und von so einem, der Schmieröl statt Grips im Kopf hat, sollte man sich nicht auch noch beölen lassen. Bascha Mika