„In Deutschland steigt der Chaospegel“

■ In Frankfurts Alter Oper wurde der „rationale Diskurs“ zum Thema „Republik mit braunen Flecken“ eröffnet / Massive Kritik am rat- und tatenlosen Parteienstaat

Frankfurt/Main (taz) – Als der hessische Ministerpräsident Hans Eichel (SPD) in der vergangenen Woche zusammen mit dem Oberbürgermeister von Frankfurt am Main, Andreas von Schoeler (SPD), die Veranstaltungsreihe „Hessen im Dialog – gegen Haß und Gewalt“ vorstellte, wurde er gefragt, ob er nicht mit „seinem“ Lottoskandal in Hessen mehr politisches Porzellan zerschlagen habe, als er mit dem am Montag eröffneten rationalen Diskurs über den grassierenden Rechtsradikalismus werde kitten können? Hans Eichel: „Da haben Sie wahrscheinlich recht – aber es ist nicht mein Lottoskandal.“

Die Selbsterkenntnis von Eichel wurde während der dreistündigen Auftaktveranstaltung zum Seriendialog über die „Republik mit den braunen Flecken“ in der Alten Oper zu Frankfurt am Main dann von den geladenen DiskutantInnen als erste Ursache für die „Renaissance des Rechtsextremismus“ (Eichel) geoutet. Für den Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer etwa stehen die zentralen Institutionen des Landes – Parteien, Regierungen, Gewerkschaften und Kirchen – seit der Wiedervereinigung „wie paralysiert“ vor den latent vorhandenen Problembergen einer Gesellschaft im sozialen- und ökonomischen Umbruch. Und weil die aufbrechenden Konflikte in dieser Gesellschaft nicht mehr – wie noch in der prosperierenden alten Bundesrepublik – auch mit monetären Mitteln aus den ökonomischen Zuwachsraten aufgefangen werden könnten, ersetze die Inszenierung von „Umdeutungsprozessen“ das politische Engagement.

So seien rechtsextreme Gewalttäter von Politikern in Regierungsverantwortung zu „pathologischen Monstern“ stilisiert und die alten und neuen rechtsextremen Parteien und Gruppierungen zum „sicherheitstechnischen Problem“ erklärt worden. Dabei habe sich längst auch in den zentralen Institutionen nationales- und auch nationalistisches Gedankengut fest etabliert. Und auch deshalb sei die latente Krise der wiedervereinigten Republik eine „Krise der Mitte“.

Dieser Analyse wollte auch die Präsidentschaftskandidatin der Freien Demokraten, Hildegard Hamm-Brücher, nicht widersprechen: „Die Ratlosikeit der politischen Klasse nimmt zu – und deshalb wird das weitergehen.“ Bonn sei noch nicht Weimar. Doch ihr werde es „Angst und Bange“ bei dem Gedanken an die „selbstverschuldete“ Krise der etablierten Parteien im Zusammenhang mit der latenten ökonomischen Krise: „Ein gefährliches Gebräu“.

„Der Chaospegel in Deutschland steigt“ auch für Antje Vollmer (Bündnis 90/ Die Grünen). „Tickende Zeitbomben ohne Überzeugung“ nannte Vollmer die neuen Rechten. Und sie klagte bei all denen, die „mit der Demokratie großgeworden“ seien, die aktive Verteidigung der demokratischen Werte ein. Weder die „innere Auswanderung“ noch Panikreaktionen – Stichwort: Selbstbewaffnung – seien geeignete Formen der Reaktion im Umgang mit Rechtsextremisten. Gewalt müsse in dieser Gesellschaft wieder „geächtet“ werden: „Und deshalb brauchen wir eine neue zivilisatorische Debatte“ (Vollmer).

Für Heitmeyer ein „zu moralischer“ Ansatz. Und für den von Vollmer direkt angesprochenen Schriftsteller Ralph Giordano („Ich bin kein jüdischer Pistolero!“) kein Ersatz für staatliches Handeln.

In Zeiten, in denen Juden in Deutschland wieder „auf gepackten Koffern“ sitzen müßten, während der Staat gegenüber den rechtsradikalen Gewalttätern noch immer nicht Flagge zeige, sei es legitim, auch über Selbstverteidigung nachzudenken, sagte Giordano unter dem Beifall der knapp tausend ZuhörerInnen. Giordano machte die in beiden deutschen Staaten nicht aufgearbeitete NS- Vergangenheit („giftiger Humus“) mit dafür verantwortlich, daß in den letzten drei Jahren ein „rassistischer Flächenbrand“ über Deutschland habe hinwegfegen können. Die BRD habe immer ihre „braunen Flecken“ gehabt – „und die Stammtischmentalität war immer da.“

Gemeinsam beklagten die DiskutantInnen dann die „verpaßte Chance der Neuordnung des Landes“ (Eichel) im Zuge der Wiedervereinigung. Wäre 1990 das „Blutrecht“ abgeschafft und ein neues Staatsbürgerrecht unter Einbeziehung der hier lebenden BürgerInnen ausländischer Herkunft geschaffen worden, so Ministerpräsient Eichel, wäre den Rechten viel Wind aus den Segeln genommen worden. Auch diese Chance, so Hamm-Brücher, sei „in der Mitte verspielt“ worden. Und was bleibt (heute) zu tun? Für Antje Vollmer müssen vor allem die Parteien lernen, auf Macht zu verzichten und Verantwortung zu demokratisieren. Für Giordano muß der Staat endlich „seine Instrumente“ zeigen – was für Heitmeyer nur zu einem für die Rechtsextremisten günstigen „repressiven Klima“ führe.

Hamm-Brücher referierte abschließend frei aus dem Programmheft der Veranstaltungsreihe: „Wir müssen uns konstruktiv ein bißchen zusammenfinden.“ Klaus-Peter Klingelschmitt