Fünf Tage im Mai

Brandt-Witwe läßt bisher unbekannte Notizen ihres Mannes zum Fall Wehner veröffentlichen / Hat Herbert Wehner, mit der Stasi konspirierend, im Mai 1974 Willy Brandt gestürzt?  ■ Von Christian Semler

Zeitgeschichtliche Forschung vollzieht sich im Handgemenge. Frau Seebacher-Brandt, wegen Teilen des Brandt-Nachlasses im Streit mit dem Archiv für soziale Demokratie – also mit ihrer eigenen Partei, der SPD – hat in der FAZ vom 17. Januar eine kleine Handgranate geworfen. Die Witwe legte bislang unbekannte handschriftliche Äußerungen ihres Mannes, 43 Seiten mit dem Titel „Notizen zum Fall G.“ (Guillaume d.R.) vor. „Vorlegen“ ist ein Euphemismus des FAZ-Redakteurs. Er, und nur er, war es, dem Einsicht gewährt wurde. R.G. Reuth, der Redakteur, kommt zu dem Ergebnis, daß die „Notizen“ Brandts „abermals Schatten auf Wehner werfen“. Dies im Zusammenhang mit Kontakten, die Herbert Wehner auf dem Höhepunkt der Guillaume-Krise im Mai 1974 – die mit dem Rücktritt Brandts endete – mit der Führung der SED unterhalten habe. Der Bericht Reuths endet mit einer Anekdote. Im November 1991 soll Brandt auf die Frage eines „Weggefährten“, ob er überrascht wäre, wenn sich herausstellen würde, daß Wehner auch die „Sache der anderen Seite“ betrieben habe, mit einem lapidaren „Nein!“ geantwortet haben. Die Pointe ist klar: Wehner soll Stasi- Agent gewesen sein.

Der harte Kern der bislang veröffentlichten Brandt-Notizen besagt:

1. Wehner sei anläßlich seiner Reise nach Moskau im September 1973 mit Abgesandten Honeckers zusammengetroffen. Brandt vermutet, Wehners Invektiven gegen ihn auf einer Pressekonferenz in der sowjetischen Hauptstadt („Der Herr badet gern lau“) seien vielleicht durch Informationen inspiriert worden, die er von den SED-Leuten erhalten habe. Brandt schreibt: „Danach Ausbrüche Wehners. (Von Hon. gefüttert? Mit Berichten Guiś?)“. In der Rückschau, nach seinem Rücktritt, resümiert Brandt: „Von zentraler Bedeutung: die Rolle H.W.s vor allem bei dessen SU-Reise.“

2. Brandt stellt fest, daß Wehner in den Tagen unmittelbar vor und nach seinem Rücktritt mehrfach mit der SED-Führung gesprochen habe, ohne ihn hiervon zu unterrichten. Brandt: „In den vorausgegangenen Tagen, (bis zum Rücktritt am 5. Mai) habe es zwischen H.W. und Hon. mehrere (vier) Kommunikationen gegeben. Später, am 2.5. sei ein Brief, u.a. wegen Umtausch, von Hon. an Buka [Bundeskanzler d.R.] über H.W. geleitet worden. Ich habe ihn nicht erhalten.“

3. Die SED-Führung habe zu einem Zeitpunkt eine Einladung an den künftigen Bundeskanzler Schmidt ausgesprochen, als der Rücktritt Brandts noch nicht publik gemacht worden war. „Am 6.5. einen Brief mit Einladung an H.S. (also vor meinem offiz. Rücktritt).“ Die Schlußfolgerung, die Brandt nahelegt, lautet: die SED- Führung wurde sofort nach seinem Rücktrittsentschluß von Wehner informiert.

4. Brandt vermutet, daß SED- und KPdSU-Führung sich hinsichtlich der Gründe seiner Demission an Wehners Sprachregelung gehalten hätten. „Ostberlin gab Moskau Deutung, der zufolge ich wegen innenpolitischer Gegensätze in Konflikt mit Gewerkschaften zurückgetreten bin“.

Bereits 1989 hatte Brandt in seinen „Erinnerungen“ ausführlich sein Verhältnis zu Wehner geschildert. Er warf dort dem „Onkel“ vielfaches, eigenmächtiges Verhalten (auch im Umgang mit SED und KPdSU) vor. Er kritisierte die verletzende, oft brachiale Art, in der Wehner selbst mit vertrautesten Genossen umsprang. „Der Mann muß weg“ – mit diesen vier Worten hatte Wehner Brandt 1961 beispielsweise mitgeteilt, daß der Parteivorsitzende Ollenhauer abgelöst werden müsse. Besonders verbittert war Brandt, wie Wehner und sein Adlatus, der Chef des BND, Günther Nollau, das Dossier über sein, Brandts, Liebesleben als Druckmittel nutzten, um ihm den Rücktritt nahezulegen – weil er künftig durch die östlichen Sicherheitsdienste erpreßbar sei. Fügen sich die jetzt publizierten „Notizen“ Brandts in seine „Erinnerungen“ ein und sind diese Notizen geeignet, den Verdacht zu untermauern, Herbert Wehner habe „auf beiden Schultern getragen“?

Wehner hatte schon in den Jahren 1968–70 insgesamt 16 Gespräche mit der SED-Spitze geführt. Es ging um den Freikauf von Häftlingen. Nach der Bildung der sozialliberalen Koalition nahm er als Fraktionsvorsitzender lebhaften Anteil an der „Ostpolitik“, die er rückhaltlos verteidigte – ohne sie wirklich mitzubestimmen. Er ließ deshalb auch den Kontakt zu Honecker, mit dem ihn aus den Zeiten der illegalen KPD eine Art uneingestandenes Tutorenverhältnis verband, nie abreißen. Tatsache ist, daß er mit dem Fortgang der Ostpolitik zunehmend unzufrieden war, Brandt Entscheidungsschwäche vorwarf und nach einem „koordinierenden Zentrum“ verlangte. Es ist sehr wohl möglich, daß er, als die Affaire Guillaume zunächst intern aufflog, auf eigene Rechnung in Richtung Berlin/DDR aktiv wurde. Man kann sich Stil und Inhalt der Anfragen ausmalen, mittels derer Wehner, nach bester Komintern-Art, bei den SED-Oberen erkundete, ob die noch ganz dicht im Kopf seien. In der Tat versuchte ja auch Honecker lügenhafter Weise zu suggerieren, Guillaume sei nach Bildung der sozialliberalen Koalition „abgeschaltet“ worden. Daß Wehner die SED-Führung sofort über die Nachfolgeregelung nach dem Rücktritt Brandts informierte, paßt in seine eigenmächtigen Vorstellungen von „Schadensbegrenzung“. Wenn man bedenkt, wie wertvoll Brandt für die „Anerkennungs“-Bemühungen der DDR war, wenn man ferner unterstellt, daß die SED mit Schmidt keineswegs leichteres Spiel gehabt hätte, so fällt es wirklich schwer, zu glauben, Wehner hätte in konzertierter Aktion mit der Stasi den Sturz Brandts bewerkstelligt. Ehe nicht Beweise auftauchen, die den Verdacht der Konspiration mit der SED-Führung bekräftigen (nach einem Dokument, das „Agententätigkeit“ erwiese, wird man sowieso vergeblich suchen), ist es ratsam, sich an die gesicherten Fakten zu halten.

Auch nach ihnen trägt Wehner ein gerüttelt Maß Verantwortung am Ausgang der „Affaire Guillaume“. Wehner schwankte in seinem Verhältnis zu Brandt zwischen bedingungsloser Loyalität und eiskalter Entschlossenheit, den verhaßten Freigeist politisch zu „erledigen“. Wenn man schon – im Wahljahr 1994 – an die SPD eine peinliche Frage richten will, dann diese: Wie kommt es, daß diese Partei sich Jahrzehnte klaglos einem Mann unterordnete, dessen Zerrissenheit, dessen puritanisch-autoritäre Charakterstruktur jedem „denkenden Genossen“ offenbar war?