■ Von Sarajevo her gesehen:
: Die 10 Kardinalsünden der UNO

Als der französische General Jean Cot das erste Mal Sarajevo besuchte, nachdem er zum Kommandanten der Unprofor ernannt worden war, wollte er mich sehen – um mir und meiner Zeitung Oslobodjenje , wie er sagte, seine Hochachtung auszudrücken. „In meinem Land seid ihr die wahren Kriegshelden“, eröffnete mir der General. Eine seiner Fragen, von der er meinte, er habe sie sich selbst oft gestellt, war die folgende: Hätte Sarajevo eineinhalb Jahre Belagerungszustand überlebt, wenn es keine von den UN-Truppen geschützten Hilfstransporte gegeben hätte? „Mag sein“, antwortete ich, „wir hätten nicht überlebt. Die Menschen hier wissen, wieviel Ihre Soldaten im Rahmen ihrer humanitären Mission riskieren, und sie schätzen das hoch ein. Aber Sie können dennoch keinerlei Dankbarkeit von einer Stadt erwarten, die unter einem doppelten Todesurteil lebt: das erste verhängt durch die serbischen Schützen und Kanoniere, die die Einwohner unserer Stadt mit alltäglicher Routine massakrieren, und das zweite durch die humanitäre Misere – das heißt ein Leben ohne Nahrung, Wasser, Elektrizität, Gas, Heizungsmöglichkeiten...“

Wohlmeinende Leute wie General Cot oder sein Kollege, der belgische General Frances Briquemont, die beide kürzlich zurücktraten bzw. geschaßt wurden, können das schlechte Image, das die Vereinten Nationen aus der bosnischen Perspektive haben, keinesfalls aufbessern. Denn die Truppen der Vereinten Nationen haben bis jetzt im Rahmen ihrer vollständig konfusen Anwesenheit in Bosnien-Herzegowina mindestens zehn Hauptsünden begangen.

1. Die schlecht definierte Mission der UNO. Die UNO-Truppen kamen als peace-keepers nach Bosnien, aber dort gab es keinerlei Frieden zu bewahren. Und sie haben weder Mittel noch Mandat, um den Frieden herzustellen. Das einzige, wozu sie in der Lage sind, ist, den eingeschlossenen bosnischen Städten humanitäre Hilfe zukommen zu lassen. Und selbst diese Aufgabe wird oft durch serbische oder kroatische lokale Kriegsherren vereitelt.

2. Das Waffenembargo gegen Bosnien. Es ist eine ironische Tatsache, aber weit schlimmer noch, es ist Komplizenschaft beim Mord an Land und Leuten Bosniens, wenn die einzige UNO-Resolution, die vollständig durchgeführt wurde, ausgerechnet die ist, durch die ein Waffenembargo gegenüber dem Land verhängt wird. Tatsächlich handelt es sich um eine Entscheidung, die dem Opfer der Aggression verbietet, sein legitimes Recht auf Selbstverteidigung wahrzunehmen. Die UNO fesselt Bosniens Hände, während die frühere jugoslawische Volksarmee (JVA) damit fortfährt, uns zu bombardieren, und die Städte nach der Art von Völkermorden „säubert“. Wenn die UNO schon nicht in der Lage war, militärisch zu intervenieren, um ein Land zu retten, das der Aggression ausgesetzt ist, müßte die Staatengemeinschaft einem Mitgliedsland wenigstens erlauben, sich selbst zu verteidigen.

3. „Unparteilichkeit“ und „Objektivität“. Es war der kanadische General Louis McKenzie, der, während er Unprofor-Kommandant in Bosnien war, dieses kuriose Konzept der „Unparteilichkeit“ und „Objektivität“ angesichts einer Situation formulierte, als es eine einseitige Aggression, einseitigen Terror und Völkermord gab. Was in Bosnien am Anfang geschah, konnte man keinesfalls als „Krieg“ bezeichnen. Um einen Krieg zu führen, brauchen Sie mindestens zwei sich bekämpfende Armeen, und Bosnien hatte zu der Zeit, als es angegriffen wurde, einfach keine Armee. General McKenzie fuhr selbst dann noch fort, von der „Beteiligung aller Seiten an dem Konflikt“ zu sprechen, als die UNO die Serben als Aggressoren identifizierte. Er hat schließlich Bosnien-Herzegowina verlassen, ohne zu wissen, wer die good guys und wer die bad guys dort waren.

Das letzte Beispiel dieser Art kranker Objektivität: An genau dem gleichen Tag, als die Nato- Führer ihre bislang so hohle Drohung gegen die Serben erneuerten, Luftangriffe für den Fall zu fliegen, daß die Serben ihre „Strangulierung von Sarajevo“ nicht beendeten; an genau dem gleichen Tag, als eben diese Serben eine neue Runde von Bombardierungen der bosnischen Hauptstadt einleiteten, erklärten die UNO-Repräsentanten in Sarajevo: „Wir wissen nicht, wer mit dem Schießen begonnen hat.“

Doch in Wirklichkeit liegen die Dinge weniger kompliziert als behauptet. Wenn die bosnische Armee schießt, dann geschieht das in 95 Prozent der Fälle, um serbische Positionen zu treffen, von denen aus die Stadt seit 21 Monaten bombardiert wird. Wenn die Serben schießen, dann geschieht das in 95 Prozent der Fälle, um Zivilisten zu treffen, ihre Häuser, die Krankenhäuser, die Schulen und ähnliche „strategische Ziele“.

4. Kontrolle durch schlichtes Zählen: Erinnern Sie sich an die UNO-Resolution, die die Kontrolle schwerer Waffen um Sarajevo forderte? Wir in Sarajevo hofften damals, daß die Serben künftig daran gehindert würden, ihre Panzer- oder 120-Millimeter- Geschosse auf unsere Wohnungen zu richten. Was aber geschah? Die UNO-Beobachter benehmen sich wie Kellner am Feierabend. Sie zählen einfach die Feuerrunden, die es an verschiedenen Stellen gegeben hat, und verkünden am kommenden Tag, daß siebenhundert oder tausend oder ein paar tausend Geschosse die Stadt getroffen haben – und damit hat es sich. Erst kürzlich wurden sechs Personen, darunter zwei Kinder, in einer Wohnung in Sarajevo getötet, während sie ihr aus der humanitären Hilfe stammendes Abendessen zu sich nahmen. Und die UNO zählt weiter Geschosse und Opfer.

5. Der Witz vom „Flugverbot“: Oder die Resolution über eine „Flugverbotszone“ über Bosnien. Nach offiziellen Angaben ist sie mehr als tausendmal verletzt worden! Und kein Serbe oder Kroate, kein Flugzeug oder Helikopter ist von den Nato-Patrouillen beschossen worden, die 24 Stunden am Tag wachen.

6. Nicht so sichere „Schutzzonen“: An dem Tag, als Sarajevo eine der von der UNO gesicherten „Schutzzonen“ in Bosnien wurde, haben Serben 3.777 Granaten auf die Stadt geschossen. Seitdem geht das Beschießen und Massakrieren der bosnischen Hauptstadt weiter; Kinder und ihre Lehrer werden in der Schule getötet, städtische Marktplätze regelmäßig von Artilleriefeuer getroffen, Dutzende sterben während eines Waffenstillstands zum Neujahrsfest. All das – verbunden mit einem Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser, Elektrizität oder Heizung – reicht nicht, um von „Strangulierung“ zu sprechen, denn wenn man es täte, dann müßte man Luftangriffe gegen die serbische Artillerie befürworten, und dazu ist niemand bereit.

7. Konvois nach – nirgendwo: Eine der etwa 28 UNO-Resolutionen, die zu Bosnien angenommen wurden, versprach bewaffneten Schutz für Konvois mit humanitärer Hilfe. Diese wurden niemals geschützt. Konvois, die von UN- Soldaten begleitet werden, werden regelmäßig von serbischen oder kroatischen Kräften gestoppt, manchmal sogar von einer Gruppe zorniger Frauen, die „ihren Anteil“ an Nahrungsmitteln, Öl oder was immer da begleitet wird verlangen. In einigen Fällen wurden UNO-Kommandeure sogar mit vorgehaltenem Gewehr zum Rückzug gezwungen. Und – was kann man da machen? Nichts, wie gewöhnlich.

8. Warten auf eine „Verbindung nach außen (lifeline)“: General Briquemont war ernsthaft darum bemüht, eine lifeline, wie er es nannte, vor diesem Winter für Sarajevo zu eröffnen. Aber er brachte es nicht zustande. Die Stadt ist immer noch ohne die allergrundlegendsten Dinge des täglichen Lebens, man muß Hunderte von Metern gehen, nur um ein paar Liter Wasser zu bekommen, und läuft dabei Gefahr, von serbischen Granaten und Scharfschützen getroffen zu werden. Er trat zurück. Die Menschen in Sarajevo aber können nicht von ihrem Ghetto zurücktreten.

9. Teil des Problems werden: Denken Sie daran, wie zynisch die Begründung einiger westeuropäischer Länder ist, die vor Luftangriffen oder militärischem Engagement zögern, „weil das die UNO- Bodentruppen gefährden könnte“! Man hat den Bosniern gesagt, daß sie mit Rücksicht auf jene, die zu ihrem Schutz kamen, nicht geschützt werden können. Und dabei dachten sie, daß die UNO-Soldaten Teil der Lösung und nicht Teil des Problems sein sollten. Vielleicht haben sie sich einfach geirrt?

10. Butros Ghali – selbst: Jüngste Berichte, wonach UNO-Generalsekretär Butros Butros Ghali es abgelehnt hat, General Cot die Befehlsgewalt zur Anordnung von Luftangriffen gegen serbische Militärstellungen zu übertragen, um die UNO-Bodentruppen zu schützen, haben niemanden in Bosnien überrascht. Die Bosnier können nicht umhin, einen Teil der Verantwortung für das Auftreten der UNO in der bosnischen Tragödie bei Butros Ghali zu suchen – besonders nachdem er den Krieg in Bosnien einmal als einen „Volkskrieg“ bezeichnete. Dazu erklärte er später, daß man nicht alle Aufmerksamkeit auf Bosnien konzentrieren kann, wenn es so viel Elend in den entlegenen Teilen der Welt gibt. Jede Tragödie ist natürlich einzigartig, und für den, der leidet, ist sie die schmerzlichste. Aber in einer Situation wie in Bosnien – die einige Krieg nennen, die meiner Ansicht nach aber aufgrund der oben dargelegten Tatsachen eher Terror, Massaker, Völkermord ist – ist es, milde formuliert, ungerecht und beleidigend gegenüber den Hunderttausenden getöteten, vergewaltigten, gedemütigten und vertriebenen Bosniern, wenn Leute wie General McKenzie oder Butros Ghali Unparteilichkeit oder Objektivität für sich reklamieren.

Das ist der Grund, warum die Bosnier sich verlassen fühlen und warum sie jede Hoffnung auf die internationale Gemeinschaft verloren haben, schon vor langer Zeit... Kemal Kurspahić

Der Autor ist Chefredakteur der bosnischen Tageszeitung Oslobodjenje