Tschernobyl-Liquidatoren in Deutschland

■ Der Atom-GAU tötet weiter / Zahl der Opfer weiter unbekannt / Staat sieht sich außerstande, den kranken Liquidatoren die nötigen Medikamente bereitzustellen

Dortmund (taz) – Sie haben als Feuerwehrleute, Sanitäter, Soldaten, Ärzte oder Meßtechniker die unmittelbaren „Aufräumarbeiten“ direkt am Katastrophenreaktor Tschernobyl durchgeführt, die sogenannten Liquidatoren. Dreißig dieser HelferInnen der ersten Stunde aus Weißrußland reisen – zum Teil von schweren Erkrankungen gezeichnet – auf Einladung des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerkes (IBB) in Dortmund derzeit durch Nordrhein- Westfalen, um von den mörderischen Folgen des Supergaus in der Ukraine Zeugnis abzulegen.

Da ist zum Beispiel Michail Mazukevitsch, der nach der Atomexplosion vom 26. April 1986 mit einem Hubschrauber direkt in das verstrahlte Gebiet geflogen wurde, um Messungen durchzuführen. Diese dienten als Grundlage für die Evakuierung von 130.000 Menschen. Michail Mazukevitsch ist mit 35 Jahren Invalide. Er leidet an Schilddrüsenkrebs, hat mehrere Operationen hinter sich und fühlt sich „sehr, sehr schlecht“. Der Staat, der ihn und weitere 120.000 LiquidatorInnen die lebensgefährlichen „Aufräumarbeiten“ machen ließ, sieht sich heute nicht einmal imstande, für die Erkrankten die notwendigen Medikamente bereitzustellen.

Wie viele von den Männern und Frauen der ersten Stunde inzwischen an den Folgen der radioaktiven Verseuchung gestorben sind, können die Besucher aus Weißrußland nicht sagen. Der Staat hält die Daten unter Verschluß. Nikolai Tjuchlov, ebenfalls Tschernobyl-geschädigt, erzählt von 500 Invaliden, die dem Verein „26. April“ allein in Minsk bekannt sind. Mit der Bürgerinitiative „26. April“ (dem Tag der Katastrophe) haben sich die LiquidatorInnen ein Forum geschaffen, um über die Verseuchung zu informieren, Hilfe zu organisieren und öffentlich Druck zu machen. Mit einem Hilfsfonds unterstützt der Verein zur Zeit etwa 5.000 Familien, deren Angehörige einst die nukleare Tragödie vor Ort bekämpft und infolge der Verstrahlung verstorben oder schwer erkrankt sind.

70 Prozent der freigesetzten Radioaktivität ging seinerzeit über Weißrußland herunter. Noch heute leben rund zwei Millionen Menschen in der besonders verstrahlten Region, davon 500.000 Kinder. Eigentlich, so erzählt der Radiologe Dr. Valerij Rzcheutski, „müßten die alle evakuiert werden“. Tatsächlich böten sich aber für die meisten dieser Menschen, denen die staatlichen Behörden jahrelang die Gefährdung verschwiegen hatten, keinerlei Chancen zur Umsiedlung. Bei den Kindern aus der betroffenen Region ist die Schilddrüsenkrebserkrankung seit dem Gau um das 25fache gestiegen. Der Besuch der Delegation dient auch dem Zweck, für weitere Kinder aus dem verstrahlten Gebiet Urlaubsmöglichkeiten in Deutschland zu erschließen. Die bisherigen Erfahrungen zeigten, so Michail Obrasov, Vorsitzender des Vereins „26. April“, daß sich für die Kinder durch den Auslandsaufenthalt mindestens ein „positiver psychologischer Effekt“ ergebe. Walter Jakobs

Wer helfen kann und will, wende sich an den IBB in Dortmund, Reinoldistr. 2-4, 44135 Dortmund.